«Frei!» Was für ein allerletztes Wort steht am Ende tausender Seiten von Tagebuchaufzeichnungen.1 Es ist das anarchistische Credo von Erich Mühsam, sein politischer Kampf. Und in diesem Moment ist es die Beschreibung seiner eigenen Situation, sein Jubel: Am 20. Dezember 1924 wird er nach fünfeinhalb Jahren aus der Festungshaft entlassen. Gefangengenommen wurde der damals 41-Jährige als einer der revolutionären Anführer der Münchner Räterepublik von 1919. Zu ihnen zählte auch sein Freund und Mentor Gustav Landauer; der Schriftsteller, Anarchist, Pazifist, Jude und Mystiker im Zeichen Meister Eckharts wurde kurz nach seiner Verhaftung brutal ermordet.
1930 – längst war der kurze Frühling der Münchner Räterepublik verflogen, längst schlug Mühsams ohnmächtige Verbitterung über die Gespaltenheit der deutschen Linken wieder durch, und längst war sein Horror vor dem Erstarken des Nationalsozialismus sehr konkret – schreibt er: «Die Gesellschaft der Freiheit ist ein Organismus, das heisst ein einheitliches und darum harmonisch schaltendes Lebewesen; das unterscheidet sie vom Staat und jeder Zentralgewalt»2. Mühsam richtet sich ein Leben lang an seiner Utopie der wechselseitigen Freiheit auf: «Wer der Freiheit ergeben ist und den Gedanken rücksichtslos in sich aufgenommen hat, dass der Mensch frei sein wird, wenn es die Gesellschaft ist, die Gesellschaft der Freiheit aber nur von innerlich freien Menschen geschaffen werden kann, der wird bei sich selber und in seinem nächsten Umkreis mit dem Befreiungswerk beginnen. […] Der Mensch ist frei, der allen anderen Menschen die Freiheit lässt und die Gesellschaft wird frei sein, die kameradschaftlich Gleiche in Freiheit verbindet.»
Am 28. Februar 1933 wird Erich Mühsam wieder verhaftet. Jetzt sind die Nazis an der Macht. Sein Kampf gilt dem menschenfeindlichen Kapitalismus, dem zerstörerischen Krieg, auch dem autoritären Kommunismus und immer den Faschisten. Konsequenterweise ist er als bekannter Schriftsteller und als umtriebiger Anarchist zum Intimfeind des Regimes geworden. Er wird Folterungen und Misshandlungen ausgesetzt. Beugen lässt er sich nicht. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 wird «dieses rote Judenaas» (Joseph Goebbels) von SS-Angehörigen erschlagen.
«Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dieses Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein.» Mit diesem Satz beginnt Mühsam seine jahrelangen Notate. Es war in der Schweiz, in Château d’Oex. Mühsam lebte wild, er war eine zentrale Figur in der Schwabinger Bohème in München und reiste viel herum. Er erkundete die Ränder der Gesellschaft und war Sammler von Affären. Er schrieb Theaterstücke, Romane, politische Aufsätze und war aktiv im anarchistischen Sozialistischen Bund. Brüder und Freund*innen waren in Sorge über seinen Gesundheitszustand und schickten ihn zur Kur.
In jene Wochen im Herbst 1910 führt der kürzlich erschienene Comic Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen von Jan Bachmann (Illustrationen in diesem Heft, Angaben auf S. 4). Im Bild erscheint der eigenwillige Revoluzzer als Freak, üblicherweise schwarz gekleidet, mit längeren Haaren, buschigem Schnauz und ungestümem Bart, mit grosser Nase und runder, mit den Augen bisweilen verschmelzender Brille, wie er in Kur ist, am Scharwenzeln, Sinnieren und Politisieren. Es ist, als ob sich Mühsam auch im Abseits der Waadtländer und Berner Alpen und dann wieder zurück in München Tag für Tag selbst inszenieren würde. Die detailreichen, Mühsams Zeit und Geist wunderbar einfangenden Zeichnungen, welche einzelne Tagebucheinträge wortgetreu aufnehmen, lassen einen mitten in dieses Leben einsteigen.
Wie oft Mühsam in der Schweiz war, zeigen die Tagebücher. Eine enge Verbindung verkörperte zum Beispiel die aussergewöhnliche Berner Sozialistin Margarethe Hardegger (1882-1963). Sie spricht 1909 in München auf Einladung von Mühsam und Landauer über sozialistische Kultur und auch, bei Freibier, zum umworbenen Lumpenproletariat, zu Prostituierten. Mühsam schätzt Hardegger und lässt auch hier keine Möglichkeit zu einer Liebschaft aus: «Herrgott, was war das […], als sie in München mit mir Meinungen und Lager teilte, für ein blühendes, begehrenswertes Weib!»3 1911 beschreibt er in Bern ihre Art in, für ihn durchaus typischen, überheblicheren Worten: «Wir alle seien noch nicht die richtigen neuen Menschen. Sie weinte viel, und ihre Art ging mir recht nahe. Ganz klug werde ich aus der Frau nicht. Hinter all ihren hysterischen Verlogenheiten sehe ich doch so viel wahre schöne Menschlichkeit in ihr, dass sie mich immer wieder rührt und ergreift und dass manchmal ganz echte Zärtlichkeit für sie in mir aufsteigt.»4 Hardegger stand in enger Beziehung zu Clara Ragaz und Religiösen Sozialist*innen. Auch in Mühsams Tagebuch gibt es 1915 eine solche Verbindung: «Ich las eine sehr schöne Broschüre […]. ’Über den Sinn des Krieges’ […] von L. Ragaz, Professor an der Universität Zürich. Über die Ursachen der Katastrophe […,] Stärkung der Welt durch Sozialismus, Individualismus und aufbauende Kultur. Ich hatte meine Freude an der Schrift, wiewohl ich nicht in allen Punkten mit Ragaz einig bin.»5
Die Religion war wohl nicht die entscheidende Differenz. Erich Mühsam gilt zwar eher als Anarchist der antireligiösen Tradition — 1926 tritt er offiziell aus dem Judentum aus — , aber die Lektüre ergibt ein überraschend differenziertes Bild. Von 1911 bis 1919 gibt er Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit heraus. Er sieht keinen Gegensatz zwischen seiner Gedichtzeile «Diesseits, irdisch ist das ewige Leben!»6 und seiner Warnung «Wartet, ihr Hunde! Ich werde noch einmal zeigen, dass ich einer vom Alten Testament bin.»7.
In seinem Werk beschäftigt er sich immer wieder mit Jesus; mit diesem Freund der gesellschaftlich Geächteten, mit diesem scheiternden jüdischen Revolutionär und radikalen Prediger verbindet ihn eine Wahlverwandtschaft.8 Das wird im Gedicht Golgatha ebenso greifbar wie hier:
Ich weiss von allem Leid, fühl alle Scham
und möchte helfen aller Kreatur.
Der Liebe such ich aus dem Hass die Spur,
dem Menschenglück den Weg aus Not und Gram.
Den Trostbedürftigen geb ich Wort und Rat,
den Haltbedürftigen reich ich meine Hand.
Doch keiner war noch, der mein Wort verstand, und keiner, der die Hand ergriffen hat.
Ich weiss vom Leide nur, fühl nur die Scham
und kann doch selber nicht Erlöser sein,
wie jener Jesus, der die ganze Pein
der Welt auf seine schwachen Schultern nahm.9
Erich Mühsam verlässt das Feld der Religion nie. Er dehnt es aus: «Freiheit ist ein religiöser Begriff. Wer mit dem Ziele der Freiheit Revolutionär ist, ist ein religiöser Mensch, Revolutionär sein, ohne religiös zu sein, heisst mit revolutionären Mitteln andere als freiheitliche Ziele anstreben. Anders gesagt: Revolutionäre Entschlossenheit kann aus einer seelischen Not stammen, aus dem Empfinden der Unerträglichkeit von Zwang, Gesetz und Entpersönlichung — dann ist sie religiös».10●
Erich Mühsam: Tagebücher. 15 Bände, Berlin 2011—2019. Die Tagebücher sind in einer grossartigen Online-Edition verfügbar: www.muehsam-tagebuch.de
Erich Mühsam: Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip. In: Fanal, Jg. 5, Nr. 12, Oktober 1930.
Tagebucheintrag vom 9.6.1911
Tagebucheintrag vom 19.6.1911
Tagebucheintrag vom 30.5.1915
Erich Mühsam: Ewiges Diesseits. In: Ausgewählte Werke. Bd. 1, Berlin 1978—1984, S. 42.
Tagebucheintrag vom 1.10.1910
Carolin Kosuch: «Ein Jude zog aus von Nazareth …» Erich Mühsams Wahlverwandtschaft mit Bruder
Jesus. In: PaRDeS, Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V., Heft 21, 2015, S. 123—140
(online zugänglich).
Erich Mühsam: Ich weiss von allem Leid. In: Ausgewählte Werke. Bd. 1, Berlin 1978—1984, S. 58.
Erich Mühsam: Bismarxismus. In: Fanal, Jg. 1, Nr. 5, Februar 1927, S. 65—71.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.