«Ich bin unschuldig, deshalb wurde ich freigesprochen», sagt Francisca Linconao am 5. Mai 2018 im Gericht von Temuco im Süden Chiles nach dem Urteilsspruch. Sie ist Machi, eine spirituelle Autorität der Mapuche. Sie trägt stets ein blaues Kopftuch, das sie hinter dem Kopf zusammenbindet. Zu ihrer traditionellen Kleidung gehört auch eine schwere silberne Halskette. Es ist bereits das dritte Mal, dass Linconao freigesprochen wird. Sie und elf andere Mapuche waren beschuldigt worden, einen Brandanschlag verübt zu haben. Der Fall ist in Chile bekannt als «Caso Luchsinger-MacKay». Seit Jahren wird er immer wieder neu aufgerollt.
Alles begann am 4. Januar 2013. An diesem Tag starb das Grossgrundbesitzerpaar Werner Luchsinger und Vivian MacKay bei einem Feuer in ihrem Wohnhaus. Es steht in der Araucanía-Region im chilenischen Süden. Die Vorfahren der Luchsingers waren im 19. Jahrhundert aus der Schweiz nach Chile gekommen, um gemeinsam mit anderen die Region landwirtschaftlich zu erschliessen. Die Tat wurde von der chilenischen Justiz als Terrorakt klassifiziert. Die Polizei nahm mehrere Verdächtige in Untersuchungshaft, auch Francisca Linconao. Sie musste unter Zwang ihre traditionelle Kleidung ablegen und wurde in Handschellen der Presse vorgeführt. Im Oktober 2013 wurde sie zum ersten Mal freigesprochen. Wenige Monate später verklagte sie den chilenischen Staat vor dem Gericht von Temuco wegen körperlicher und religiöser Schädigung ihrer Person und wegen der Missachtung ihrer Stellung als Machi – und sie gewann. Das war erst der Anfang.
Im Jahr 2008 gewann Linconao einen Gerichtsprozess gegen das Forstunternehmen Palermo Limitada, das in ihrer Gemeinde den Wald rodete. Mitglieder der Familie Taladriz, der das Unternehmen gehört, waren NachbarInnen von Linconao. Ihr Grundstück grenzte direkt an den Wald, der für sie als Machi Lebens- und Arbeitsgrundlage darstellte. Als sie sah, dass die Firma den Wald abholzte, in dem die lawen (Heilkräuter, die sie für ihre Arbeit als Machi braucht) wachsen, und dass Stätten zerstört wurden, die für ihr Volk heilig sind, ging Linconao vor Gericht. Sie berief sich dabei auf ein Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, das der chilenische Staat kurz zuvor unterzeichnet und ratifiziert hatte. Die ILO-Konvention 169 ist das einzige verbindliche internationale Abkommen, das dem Schutz der Rechte indigener Völker gewidmet ist. Es erkennt unter anderem die Bestrebungen dieser Völker an, «im Rahmen der Staaten, in denen sie leben, Kontrolle über ihre Einrichtungen, ihre Lebensweise und ihre wirtschaftliche Entwicklung auszuüben und ihre Identität, Sprache und Religion zu bewahren und zu entwickeln». Es war das erste und einzige Mal, dass die ILO-Konvention 169 in Chile angewandt wurde.
«Es handelt sich um einen Präzedenzfall. Die Machi ist die erste Frau des Mapuche-Volkes, die einen Gerichtsprozess gegen ein Unternehmen gewann und so einen heiligen Ort beschützen konnte. Damit wurde der Grundstein für ihre Verfolgung gelegt», sagt Ingrid Conejeros. Sie ist eine Vertraute von Francisca Linconao und spricht für sie mit der Presse. Im März 2016 wurde Linconao erneut verhaftet und in Untersuchungshaft festgehalten, angeblich aufgrund einer neuen Beweislage im Fall Luchsinger-MacKay. Ende 2016 nahm sie einen Hungerstreik auf und erreichte, dass ihre Untersuchungshaft in Hausarrest umgewandelt wurde. Im Oktober 2017 wurden alle elf Angeklagten aufgrund der unzureichenden Beweislage freigesprochen. Ende 2017 wurde der Fall jedoch erneut geöffnet. Erst im Mai 2018 wurde das – vorerst – endgültige Urteil gefällt. Drei Mapuche wurden als Verursacher eines Brandanschlags mit Todesfolge schuldig gesprochen, acht wurden freigesprochen. Bereits 2014 verhaftet und schuldig gesprochen war Celestino Córdova, ebenfalls Machi, der vor wenigen Wochen über hundert Tage lang einen Hungerstreik durchhielt, um für 48 Stunden zu seinem Rewe zurückzukehren, seiner heiligen Stätte. Aber bisher hatte er keinen Erfolg.
Der Fall Luchsinger-MacKay wurde unter Verweis auf das umstrittene Antiterrorgesetz verhandelt, das bereits mehrfach von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisiert wurde. Es wurde am 16. Mai 1984 von General Pinochet während der Militärdiktatur genehmigt. Es erlaubt, «Terroristen», die sich gegen die Regierung wenden, auch ohne klare Beweislage und ohne Gerichtsprozess unter dem Vorwand der Untersuchungshaft im Gefängnis festzuhalten. Es lässt Aussagen anonymer ZeugInnen zu, verbietet den StrafverteidigerInnen in den ersten sechs Monaten des Verfahrens Zugang zu den Ermittlungsakten und erlaubt bei bestimmten Straftaten die Verdoppelung der Strafe. Die Definition von Terror ist zugleich äusserst schwammig. Als Michelle Bachelet 2014 Präsidentin wurde, sicherte sie zu, das Antiterrorgesetz und das System der Militärjustiz mit internationalen Standards in Einklang zu bringen. Ein Gesetzesentwurf für eine Reform scheiterte jedoch am Widerstand konservativer Politiker. Der seit diesem Jahr amtierende konservative Präsident Sebastián Piñera will das Antiterrorgesetz sogar noch verschärfen.
Die Mapuche gelten als eines der kämpferischsten Völker Lateinamerikas. Kaum jemand hat sich so lange gegen die Inkas und gegen die spanischen Eroberer behaupten können. Die Mapuche verlangen seit Jahren vom chilenischen Staat, dass er ihnen angestammte Territorien zurückgibt. Was ist der Grundkonflikt? Der chilenische Staat wirft den Mapuche vor, sie würden sich gegen die Verfassung und somit auch gegen die chilenische Nation wenden, wenn sie ihre ursprünglichen Gebiete zurückfordern. Dies rechtfertigt aus Sicht der Behörden, die AufrührerInnen wie «Terroristinnen» zu behandeln. Dabei wird ausgeblendet, wie weit dieser Landkonflikt in die Geschichte zurückreicht. Da die spanischen Eroberer die Mapuche nicht besiegen konnten, verhandelten sie und überliessen ihnen 1641 mit dem Vertrag von Quillín ein Territorium von etwa zehn Millionen Hektaren.
Mit der Unabhängigkeit Chiles im Jahr 1810 stellte sich heraus, dass der neu gegründete Staat diese Vereinbarung nicht anerkannte. Stattdessen wurden Truppen in die Araucanía-Region geschickt, um Teile der indigenen Gebiete zu übernehmen und an chilenische oder ausländische SiedlerInnen wie die Luchsingers zu verkaufen. Die Mapuche wurden entweder vertrieben oder mussten sich mit einem Reservat von 500 000 Hektaren begnügen. Der chilenische Anthropologe José Bengoa nennt diesen Akt der Willkür ein «dunkles Kapitel der chilenischen Geschichte» und argumentiert, dass der heutige Mapuche-Konflikt hier seinen Ursprung habe.
Unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende wurden Anfang der 1970er Jahre bei einer Agrarreform 700 000 Hektaren Land an die Mapuche zurückgegeben. Doch dieser Transfer sollte nur von kurzer Dauer sein. Als sich General Pinochet 1973 an die Macht putschte, hatte sich Allendes Landvergabe erledigt. Mit der Begründung «Somos todos chilenos» (Wir sind alle Chilenen) verloren die Mapuche sogar den Status einer ethnischen Minderheit. In der bis heute gültigen Verfassung der Militärdiktatur existieren die Mapuche nicht. Bald schon drängten mit der neoliberalen Öffnung Chiles vermehrt ausländische InvestorInnen ins Land, insbesondere auf das von den Mapuche beanspruchte ressourcenreiche Terrain. An dieser Verdrängung änderte sich nichts, als das Land 1990 zur Demokratie zurückkehrte. Vorrang hatten die Interessen von Forst- und Energieunternehmen wie CMPC, Endesa und RP Global. Der Wald wich Wasserkraftwerken, Eukalyptus- und Kiefernplantagen für die Holzindustrie, Anlagen zur Lachszucht und Müllhalden.
Beim Kampf der Mapuche geht es nicht nur um die Forderung nach einer Rückgabe des Territoriums und nach politischer Unabhängigkeit, sondern auch darum, die Naturzerstörung durch transnationale Unternehmen zu verhindern. Denn die Verbindung zur Natur ist die Grundlage der Kultur und der Religiosität der Mapuche. Dafür kämpft auch Juan Huchalau. Alle nennen ihn Peñi Juan, Bruder Juan. Er trägt einen dicken gestreiften Poncho aus Schafswolle und hat ein Stoffband um die Stirn gebunden. Seine Haut ist ledrig, seine dunklen Haare fallen ihm ins Gesicht. Er lebt am See Lleu Lleu in der Araucanía-Region. «Der See ist einer der saubersten Seen Südamerikas. Wir pflegen unsere Seen. Hier können die Mapuche baden und sich heilen. Denn das Wasser ist heilig und spirituell.»
Aber der See Lleu Lleu befindet sich nicht mehr im Besitz der Mapuche, sondern gehört dem Forstunternehmen Mininco. Der See ist rund 4000 Hektaren gross. Er ist Lebensgrundlage für Tiere, Pflanzen und Menschen. Er hat auch eine spirituelle Bedeutung für die Mapuche. Wie alles in der Natur – jeder Baum, jeder Berg und jedes Tier – hat er einen Ngen, einen Geist, und ist Teil der Ñuke Mapu, der Mutter Erde und des Kosmos. Viele Mapuche halten hier am Ufer Rituale ab und baden, um sich spirituell zu reinigen. Peñi Juan will deshalb das Forstunternehmen Mininco vertreiben. «Unseren Brüdern gehört die Erde vom Meer bis zu den Bergen. Wir wollen, dass sie wieder die Besitzer sind, dass sie hier leben können, ihre Häuser und Boote hier haben können. Die Erde gehört zu uns. Die Erde ist heilig», sagt Huchalau.
Auch Luz Marina Huenchucoy beschäftigt sich mit Umweltkonflikten. Sie ist eine der wenigen Mapuche, die an der Universität studieren. Sie promoviert in Interkulturellen Studien an der Katholischen Universität in Temuco in Chile. «In der Kultur der Mapuche steht der Mensch in direkter Verbindung zur Natur. Nicht nur in der Theorie, wir leben und spüren das», sagt sie. «Und was passiert heute? Es geht uns schlecht. Das hat mit den grossen Unternehmen und mit dem neoliberalen System zu tun.»
«Ich» heisst auf Mapudungun Che. Aber Che bedeutet auch Person oder Mensch im Singular und im Plural. Das Che befindet sich in permanenter Konstruktion. Der Begriff bezeichnet nicht nur den physischen Körper, sondern auch das Bewusstsein und den Geist, der nach dem Tod weiterlebt und mit den Vorfahren und den Gottheiten interagiert. Mapuche bedeutet deshalb «Menschen der Erde» – Mapu ist die Erde, und Che sind die Menschen, die mit der Erde vereint sind. Deshalb steht für die Mapuche auch das Gleichgewicht und die Harmonie mit der Natur im Mittelpunkt des Kyme Mogen, des «Guten Lebens». «Das Leben steht in Verbindung mit dem Umfeld, in Verbindung mit dem Sinn des Winds, der Luft, der Sonne. So verstehe ich, wenn es anfängt zu regnen, ich verstehe die Energien. Che, die Person, ist verbunden mit den Flüssen, mit den Vulkanen, mit ihrem Ursprung letztendlich», erklärt Huenchucoy.
Deshalb ist die Natur auch so wichtig für die Machis, die spirituellen Autoritäten und HeilerInnen. Meistens sind Machis Frauen, so wie Francisca Linconao. «Machi zu sein, ist eine Gabe. Es ist keine Rolle, die man sich aussucht oder zu der man gewählt wird. Man wird als Machi geboren. Das bedeutet eine grosse Verantwortung», erklärt Ingrid Conejeros. In einem Interview, das Francisca Linconao nach ihrem Freispruch dem Mapuche-Medium Aukin gab, erklärte sie, wie sie zur Machi wurde: «Meine Gabe ist es, zu heilen. Als ich sieben Jahre alt war, habe ich das gemerkt. Mit sechzehn Jahren habe ich angefangen, meine Heilkräuter anzupflanzen. Und so habe ich schon sehr jung als Heilerin gearbeitet. Ich habe Mapuche und Nicht-Mapuche geheilt. Deshalb war es so schlimm für mich, als die Polizei begann, mich zu verfolgen. Ich bin unschuldig, deshalb habe ich keine Angst. Aber ich bin wütend.» Sie hätte nie damit gerechnet, so viel internationale Unterstützung zu erhalten und ist sehr dankbar dafür.
*1992, stammt aus Leverkusen und lebt in Santiago de Chile. Sie studiert lateinamerikanische Sozial- und Politikwissenschaften an der Universidad Alberto Hurtado und arbeitet als freie Journalistin.