In der Schweiz bleibt nach Wahlen üblicherweise alles beim Alten. Das System wankt nicht. Trotz der letzten «grünen Wahlen», einer «Frauenwahl». Die erhoffte Veränderung ist mit Ausnahme einiger gesellschaftspolitischer Errungenschaften wie der «Ehe für alle» oder der unbürokratischen Änderung des Geschlechtseintrags ausgeblieben. Das könnte bei den National- und Ständeratswahlen im nächsten Jahr wieder so kommen. Treten an Ort. Aber Kontinuität darf sich dieses Land nicht mehr leisten. Sie bedeutet die Fortführung des ungebremsten Produzierens und Konsumierens auf Kosten anderer. Die irreversible Klimaerhitzung und Zerstörung von Ökosystemen. Das noch angestrengtere Wegschauenmüssen von der Tatsache, dass der Rohstoff- und Finanzhandelsplatz Schweiz viele Kriege und Krisen befördert und gleichzeitig von ihnen profitiert. Und das Verharren in starren Machtgefügen der sogenannten Leistungsgesellschaft, das zu Erschöpfungszuständen führt und zu weit verbreiteter Einsamkeit.
Die Schweiz ist für viele eine Insel des Wohlstands, ein Fels der Stabilität. Allerdings – um im Bild zu bleiben – steigt der Meeresspiegel, und der Permafrost schwindet. Nichts bleibt beim Alten. Krisenzeiten werden nun im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts auch hierzulande nicht mehr abgelöst von prosperierenden Phasen für die meisten. Die Grosskrise Pandemie verschmilzt und multipliziert sich mit anderen Krisen: Care- und Pflegekrise, Finanz- und Inflationskrise, Klimakatastrophe, Hungerkrise, Flucht und Krieg. Aus vielen Krisen ist eine permanente, kolossale Krisenlage geworden. Menschen, die in sozial benachteiligten und gewaltgeprägten Verhältnissen leben, sei es in der Familie aufgrund eines prekären Status oder schlechter Arbeit, erfahren allerdings nicht erst jetzt am eigenen Leib den fortgesetzten Ausnahmezustand. Fortschrittliche Politik muss immer bei jenen ansetzen, für die es «Normalität» sowieso nicht gibt. Und als politisches Ziel verschleiert Normalität in der permanenten Krise Ungleichheiten.
Die Schweiz hat keinen Krisenplan. Keinen Plan für ein offenes, gemeinsames Europa, keinen für die Klimakatastrophe, keinen für Sicherheit über militärische Aufrüstung hinaus, keinen für globale Solidarität, keinen für gegenseitige Fürsorge unter den Menschen. Auch wenn das erste Jahrzehnt zur Umsetzung der UNO-Agenda 2030 weitgehend verspielt wurde, sagt der Bundesrat, der Nachhaltigkeitskurs stimme grundsätzlich. Die zivilgesellschaftliche Plattform Agenda 2030 bilanziert: «Wir leben auf Kosten der Welt, doch der Bundesrat hat bislang keine Strategie vorgelegt, um die notwendige Transformation hin zu einer Wirtschaft zu bewältigen, welche die planetaren Grenzen einhält.»
Die Schweiz braucht einen Plan. Ich träume davon, dass wir ihn in diesem Land miteinander entwickeln. Wenn sich alle dafür Gesprächspartner*innen suchten, die anders leben und denken als jeweils sie selber? Wenn so Gewerkschafter*innen, Bäuer*innen, hochaltrige Menschen, Schüler*innen und Auszubildende miteinander ins Gespräch kämen, Geflüchtete mit prekärem Status und Paare oder Familien mit Zweitwohnungen? Ich träume davon, dass Menschen neugierig werden aufeinander, sich die Orte zeigen, wo sie wohnen, arbeiten, spazieren, kämpfen. Orte, an denen sie die Realisierung von Utopien längst vorwegnehmen, oder Orte, die sie verändern möchten.
Ich träume davon, dass Menschen gemeinsam Pläne für ein diskriminierungsfreies und vielfältiges, wachstumskritisches und weltverträgliches, solidarisches und heiteres Land schmieden. Dass immer mehr Menschen für den Ernst der Lage und die Freude des Gemeinschaftlichen mobilisiert werden können und in breiten Bündnissen zusammenkommen. Auf der Strasse am grossen feministischen Streik am 14. Juni 2023, an Klimastreiks in hoher Kadenz, an kämpferischen Aktionen gegen die drohende Sparpolitik, aber auch in vielfältigen kleinen Projekten überall.
Und ich träume davon, dass am 22. Oktober 2023 viele Kandidat*innen gewählt werden, die Teil dieses Plans sind. Es braucht eine Stimmbeteiligung von 70 statt 45 Prozent wie 2019. Jene, die dazukommen, können eine Verschiebung der Kräfte bewirken. Eine Aufbruchstimmung mit neuen Mehrheiten ergibt sich nicht aus pragmatischen Kompromissen nach rechts. Hoffnung entsteht nicht durch inhaltsfreie Machtkartelle, wie sie Bauernverband, economiesuisse, Gewerbeverband und Arbeitgeberverband gerade schmieden. Hoffnung in der Krise wächst durch das Sichtbarmachen übergreifender Allianzen, die auf radikale gesellschaftliche Transformation zielen.●