18. Dezember 2021

Wunder

«Jede Fessel, die heute fällt»

Sonja Thomaier, 29. Januar 2024
Neue Wege 1.24

Clara Ragaz war eine scharfsinnige und intersektionale Denkerin. Ein Blick in ihre politischen Reden zeigt, wie sie die emanzipatorischen Bewegungen ihrer Zeit zusammendachte und in ihrem politischen Handeln zusammenhielt. Ihre Solidarität und ihr Ringen ums Ganze vermögen auch heute zu inspirieren.

Clara Ragaz (geb. Nadig) lebte in einer bewegten Epoche. Die 1874 geborene Schweizerin erlebte nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch die damit zusammenhängenden politischen und wirtschaftlichen Kämpfe. Darin blieb sie der Utopie eines guten Lebens für alle verpflichtet. Ragaz ging es in ihrem Handeln immer ums Ganze.1 So war sie nicht nur von einer einzelnen Befreiungsfrage bewegt, sondern schaffte es, die Kämpfe der Frauenrechtsbewegung, des Pazifismus und des Sozialismus zusammenzudenken und in ihrem politischen Agieren zu verbinden.

Die Analysekategorie intersektional ist ein aktuell viel verwendeter Begriff, der in den 1970er Jahren im Zusammenhang der feministischen Black-Liberation-Bewegung und durch die Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt wurde. Bereits in seiner Entstehung bezog sich der Begriff Intersektionalität auf die Überschneidungen («Intersektionen») verschiedener Diskriminierungen und Unterdrückungen, die Arbeitsrechtler*innen und Sozialist*innen adressierten.2 Daher halte ich es für nicht unangemessen, diese Bewegungen über Raum und Zeit zu verschwestern und Clara Ragaz unter dem Gesichtspunkt der Intersektionalität zu betrachten, auch wenn der Begriff zu ihrer Zeit noch nicht geläufig war.3

Clara Ragaz blieb in ihrem Denken und ihrem öffentlichen Wort unbequem und konsequent. 1915, ein Jahr nach Kriegsausbruch, hielt sie eine Rede, in der sie die Frauen- und die Friedensfrage in den Mittelpunkt stellte.4 1919, ein Jahr nach Ende des Krieges – in Zeiten politischer Umbrüche und des Brodelns der Systemfragen –, hielt sie eine analytisch scharfsinnige Ansprache am Schnittpunkt von Frauenbewegung und sozialistischen Utopien.5 Und 1948, als Europa nach einem weiteren Krieg in seiner nationalistischen Zersplitterung lag, mahnte sie ihren Genossinnen die internationale Solidarität an.6 Diese Art des Zusammenhalts lässt sich in meinen Augen treffend mit dem Konzept der «tiefen Solidarität» beschreiben. Eine Solidarität, die anerkennt, «dass das System für die Wenigen und nicht für die Vielen funktioniert und dass sich nichts ändern wird, wenn sich nicht mehr von den Vielen zusammenschliessen. Tiefe Solidarität bedeutet nicht, dass wir alle gleich sind oder dass unsere Unterschiede keine Rolle mehr spielen, ganz im Gegenteil: Tiefe Solidarität ermöglicht es uns, mit unseren Unterschieden konstruktiver umzugehen und sie für eine gemeinsame Sache zu nutzen.» 7 Clara Ragaz’ intersektionaler Zugriff auf die Themen ihrer Zeit, die «tiefe Solidarität» und das stetige Ringen um die grossen Menschheitsziele in unruhigen Zeiten sind Punkte, von denen wir bis heute von Ragaz lernen können.

Intersektional und unbequem

Clara Ragaz spricht 1915 vor der Generalversammlung des Schweizer Verbands für Frauenstimmrecht in Biel und stellt dabei die Frage in den Mittelpunkt, welchen Einfluss die Frau auf die Friedensbewegung hat. Von Beginn an macht sie deutlich, dass der Kampf um mehr Rechte und Selbständigkeit für Frauen kein reiner Selbstzweck, sondern eng verbunden mit der Friedensfrage ist und beides in einem grös­seren Horizont steht. Programmatisch stellt sie den Gedanken voran: «Gewiss ist jede Bewegung, die darauf ausgeht, Menschen zu gemeinsamer Arbeit an irgendeinem gemeinsamen Menschheitsziel zu sammeln, eine Förderung des Friedens, aber sie ist es dann doch nur in dem Masse, als sie selbst wieder bereit ist, sich in das grosse Ganze einzuordnen und ihm unterzuordnen, ihr kleines Tempelchen dem grossen Tempelbau anzugliedern.»8

Mit der Ausrichtung auf das Bild des «gros­sen Tempelbaus» hält Ragaz die emanzipatorischen Bewegungen 1915 zusammen. Darin findet sie auch den Freiraum, ihre Enttäuschung über die Frauenbewegung auszudrücken: «Gewiss haben Frauen in diesem Sinn Grossartiges geleistet an Hilfsarbeit, an Pflegedienst, an Opferbereitschaft […] – aber sie haben es geleistet für den Krieg, nicht gegen den Krieg.»9 So bilanziert sie nüchtern, dass in der jetzigen Situation wohl auch das Wahlrecht der Frau die Katastrophe des Weltkrieges nicht verhindert hätte. Ihre Enttäuschung über das Auseinanderdriften der Frauen- und der Friedensbewegung spürt man ihren Worten an. Eine solche Ernüchterung kann in meinen Augen nur dort entstehen, wo man einen anderen Anspruch vertritt. Ihr Ausloten der Gründe für dieses Versagen befindet sich ebenfalls auf der Intersektion von Geschlechterkonstruktion und Frieden. Sie konstatiert die kriegerische «Männlichkeit» ihrer Zeit und deren Einfluss auf weibliche Sozialisierung und stellt fest, dass die eigentlichen Menschheitstugenden, Resilienz und Empathie, die sie in der Weiblichkeitskonstruktion aufgehoben sieht, einer männlichen Dominanzwelt und kapitalistischen Vorherrschaft preisgegeben wurden.10

Den Kampf um das Frauenstimm- und Wahlrecht gibt sie bei aller Selbstkritik nicht auf: «Ja, erst recht den Kampf um das Frauenstimmrecht; denn, wenn ich im Stimmrecht allein auch nicht alles erwarte, so gehört es für mich doch mit zu den Bedingungen einer Aufwärtsbewegung der Frau und der Menschheit.»11 Diese Aufwärtsbewegung der Menschheit ist der Grund, dass sie ihre erste Ansprache, in dem sie den Weltfrieden immer wieder lautstark beschwört, auch mit einem kämpferischen Appell enden lassen kann. Denn für Ragaz ist ein internationaler Waffenstillstand, in dessen Hinterzimmer man sich doch wieder für den Krieg rüstet, nicht der Friede einer gerechten Gesellschaftsordnung.

Der «grosse Tempelbau»

Vier Jahre später, 1919, spricht Clara Ragaz anlässlich des sozialistischen Frauentages in der Zürcher Kirche St. Jakob. Ihre Rede hält sie in Tagen, in denen alles «gärt und brodelt»12 und wo die Frage, welche Kräfte sich mit Blick auf Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durchsetzen werden, offenkundig zutage steht. Den kritischen Stimmen, die meinen, in solchen Zeiten könne man sich nun nicht im Besonderen der Frauenfrage widmen, tritt sie entschieden entgegen: «Der Frauentag hat aber noch den ganz besonderen Sinn, dass er den einen Gedanken in den Vordergrund stellt: Nicht nur muss die Proletarierin mit ihren männlichen Genossen zusammen den Kampf um eine völlige Neugestaltung unseres Wirtschaftslebens aufnehmen; sie muss auch, eben um diese Neugestaltung zu erreichen, in den Kampf um die völlige politische Gleichberechtigung mit dem Manne eintreten.»13 Das Frauenstimm- und Wahlrecht kann nicht als «Gnadengeschenk»14 einer politischen Neuordnung nachklappen, sondern trifft deren Wesen. Gerade bei etwas so Ambivalentem wie einer revolutionären Umwälzung, die auch zu Bürgerkriegen führen kann, darf die Frau – mit allem, was das Patriarchat in die Sphäre der Weiblichkeit verbannt – nicht fehlen.

Als religiöse Pazifistin hofft Ragaz auf eine Revolution der Liebe, setzt sich aber pragmatisch mit einer Revolution der Strasse auseinander.15 Das Gewaltpotenzial kann sie dabei klar benennen, sie hat einen scharfen Blick für die Abgründe sich selbst perpetuierender Gewalt. Einen sozialistischen Kampf ohne höheres Menschheitsziel will sie nicht denken können. Zugleich verbietet ihre politische Ausrichtung eine Burgfriedenmentalität, in dem der Status quo in seiner Gewaltförmigkeit fortgeschrieben wird.16 Hinzu kommt, dass die anspruchsvolle Aufgabe der Neugestaltung einer Gesellschaft, die Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit wirklich umzusetzen vermag, nicht nur mit der Hälfte der Menschheit geschehen kann.17 Der «grosse Tempelbau» erfolgt mit allen oder gar nicht. Darum mahnt sie ihren Genossen an: «Nein, es ist eure Sache, so gut wie die unsrige; es ist unsere gemeinsame Sache; wir können ein künftiges Reich der Freiheit nur vorbereiten, indem wir heute schon daran bauen, und jede Fessel, die heute fällt, bedeutet ein Hindernis weniger auf unserm Weg. Das Fallen dieser Fesseln ist aber zugleich Sinnbild von jenem künftigen Reich der besseren Gerechtigkeit, für das wir arbeiten.»18

Clara Ragaz schafft es mit Verve, die emanzipatorischen Anliegen ihrer Zeit zu verbinden, und zwar nicht einfach additiv, wie Perlen auf einer Kette, sondern in Form eines tiefen Verstricktseins. Als Pazifistin musste sie Teilen der Frauenbewegung mit kritischer Mahnung begegnen. Als Frauenrechtlerin schrieb sie ihren sozialistischen Genossen den Kampf um das Wahlrecht ins Stammbuch. Und als Sozialistin hütete sie sich davor, den Kampf um eine gerechte Wirtschaftsordnung auf dem Altar eines billigen Pazifismus zu opfern.

Von Clara Ragaz lernen

Wie kann heute ein Lernen von Clara Ragaz aussehen? Ich denke, man muss sich prophetisch nicht weit aus dem Fenster lehnen, um sich vor Augen zu führen, dass wir auf unruhige Zeiten zusteuern beziehungsweise uns bereits in solchen befinden – mit den sich verschärfenden Auswirkungen der Klimakatastrophe und den Umbrüchen, die Künstliche Intelligenz und die sogenannte digitale Revolution mit sich bringen (werden). Dabei gilt es sowohl dem Einigelungsinstinkt entgegenzuwirken, als auch den faschistischen Rhetoriken nicht auf dem Leim zu gehen.19 Dies wird in den kommenden Jahrzehnten eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Sich also in unruhigen Zeiten an den «grossen Menschheitszielen» zu orientieren und dabei mutig und unbequem zu bleiben, ist etwas, das wir besonders heute von Clara Ragaz lernen können.20 Ihre klare Linie, die intersektionale Verschränkung und die «tiefe Solidarität» jenseits der Grenzen von Geschlecht, Nation und Herkunft, können dabei mehr sein als nur ein historisches Beispiel. Denn der «grosse Tempelbau», den Ragaz stets vor Augen hatte, ist sicherlich noch nicht abgeschlossen. So gilt auch nach wie vor: «[…] jede Fessel, die heute fällt, bedeutet ein Hindernis weniger auf unserm Weg.»21

  1. Vgl. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6.1915, S. 240.

  2. «Wir engagieren uns natürlich besonders in den Kämpfen, in denen race, Geschlecht und Klasse gleich­zeitig Faktoren der Unterdrückung sind.» (Übersetzung ST. Original: «We are of course particularly committed to working on those struggles in which race, sex, and class are simultaneous factors of oppression.» Combahee River Collective Statement, in: Keeanga-­Yamahtta Taylor (Hg.): How We Get Free. Black Feminism and the Combahee River Collective. Chicago 2017, S. 26.

  3. Damit sollen die Mehrfachdiskriminierungen und Kämpfe Schwarzer Frauen in keiner Weise in den Schatten gestellt werden. Im Gegenteil, eine Solidarität, die nicht auch die Unterdrückungsmechanismen an der Intersektion von race – gender – class zu entlarven mag, verfehlt ihren eigentlichen Anspruch. Dass Ragaz hier selbst eine hohe Sensibilität aufweist, zeigt ihre Arbeit mit Geflüchteten und ihren Einsatz in Sachen Asylrecht (Vgl. Helen Kremos: ­Clara Ragaz-­Nadig (1874 bis 1957) – ein Lebensrückblick. In: Neue Wege 10.1997, S. 280–292).

  4. Vgl. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6.1915, S. 240–254.

  5. Vgl. Dies.: Die Revolution der Frau. In: Neue Wege 7.1919, S. 361–372.

  6. Vgl. Dies.: Ist die Frau Pazifistin? In: Neue Wege 10.1997, S. 278 f.

  7. Joerg Rieger und Rosemarie Henkel-Rieger: Deep solidarity. Broadening the basis of transformation. HTS Teologiese Studies / Theological Studies 73(3), a4578. (Übersetzung ST)

  8. Ragaz, 1915, S. 241 f.

  9. Ragaz, 1915, S. 242.

  10. Vgl. ebd., S. 243–246.

  11. Ebd., S. 243.

  12. Ebd., S. 363.

  13. Ebd., S. 362.

  14. Ebd., S. 365.

  15. Vgl. ebd., S. 366 f.

  16. «Wir wollen eine neue Welt schaffen, und diese neue Welt kann nur entstehen, wenn die alte verschwunden ist, oder sagen wir vielleicht besser, die neue Welt kann nur in dem Masse sich aufbauen, wie die alte niedergerissen ist.» Ebd., S. 365.

  17. Vgl. ebd., S. 365 f.

  18. Ebd., S. 369.

  19. Dieser Zusammenhang findet sich pointiert dargestellt bei: Martha C. Nussbaum: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist. Berlin 2021, S. 11–44.

  20. Dass diese Ausrichtung alles andere als selbst­verständlich ist, findet sich ebenfalls bei Nussbaum, vgl. ebd.

  21. Clara Ragaz: Die Revolution der Frau. In: Neue Wege 7.1919, S. 369.

  • Sonja Thomaier,

    *1989, ist Evangelische Theolog*in und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiter*in an der Stiftungsuniversität Hildesheim. Sonja promoviert dort zu Marcella Althaus-Reids Indecent Theo­logy. Zudem ist Sonja Pfarrperson und Mitarbeiter*in bei der queersensiblen Seelsorge der Landeskirche Hannover.