18. Dezember 2021

Wunder

Eine gerechte ökosoziale Transformation

Autor*innenkollektiv Transformation, 28. Dezember 2022
Neue Wege 1/2.23

Es ist nicht nur der Ukrainekrieg. Es ist nicht nur die Auseinan­dersetzung zwischen den Super­mächten USA und China. Der ganze Planet steckt in einer tiefgreifenden Mehrfachkrise. Eine Gruppe von lateinamerikanischen Forscher*innen, die mit sozialen Bewegungen verbunden sind, propagiert darum einen ökosozia­len und interkulturellen Pakt aus der Perspektive des Globalen Südens. Gefordert wird nicht weniger als ein grundlegender gesellschaftlichen Umbau, weltweit.

Wir stehen an einem Scheideweg. Wir erleben einen dramatischen historischen Moment, in dem Klimanotstand, soziale und ökologische Zerstörung, die Ernährungs- und die Energiekrise sowie die zunehmende Militarisierung und die Verschlechterung der Lebensbedingungen zusammenfallen. Inmitten dieser vielfachen Krisen und Debatten über Richtungsentscheide für unsere Zukunft wollen wir mit einem ökosozialen und interkulturellen Pakt eine Stimme des Südens erheben. Wir äussern uns kritisch zu den politisch hegemonialen und konzerngetriebenen Vorstellungen sozialökologischer Transformation. Wir wollen damit die neuen Formen eines «grünen Kolonialismus» hinterfragen, aber auch die Klassenstrukturen unserer Länder, welche Politiken eines «internen Kolonialismus» und der «Kolonialität» fortsetzen. Ebenfalls wichtig ist es für uns, Pseudolösungen für die Überwindung der Zivilisationskrise zu widersprechen, die zudem neue Formen des Ex­traktivismus, des Abbaus, der Nutzung und des Exports natürlicher Ressourcen einführen. Unter dem Deckmantel einer grünen Rhetorik wird so das Ausmass der Zerstörung und Ungleichheiten noch vergrössert.

Kritik der hegemonialen «grünen Deals»

Angesichts der unverkennbaren Anzeichen eines Systemkollapses wird weltweit aus Kreisen der Wirtschaft und Politik eine Energie­wende propagiert. Meist wird dabei die Not­wendigkeit anerkannt, die Kohlenstoff­emissionen zu reduzieren. Die aktuell herrschende kapitalistische Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur wird jedoch nicht hinterfragt. Die beworbenen «Transformationsprogramme» basieren auf Konzerninteressen, technokratischen, neokolonialen und sogar extraktivistischen Rezepten, die keine strukturellen Veränderungen erfordern. Unser ökosozialer und interkultureller Pakt des Südens stellt diese Ansätze in Frage und schlägt vor, die sozialökologische Transformation in einer Logik der globalen Gerechtigkeit zu verankern. Er stellt sowohl eine Kritik wie auch eine Alternative zu den hegemonialen Konzepten der Transformation dar.

In den letzten Jahren hat es eine ganze Reihe von Vorschlägen für einen «Green New Deal» gegeben. Sie sind vielfältig und heterogen, gehören aber im Allgemeinen zum Grundkonsens politischer Diskurse im Globalen Norden, der CO2-Emissionen reduzieren will und ein «gerechtes» und angeblich «nachhaltiges» Wirtschaftswachstum anstrebt. Zwar steht oft die Klimagerechtigkeit im Mittelpunkt der Agenda dieser «Green Deals», und es sind Entschädigungsfonds für Gemeinden, Regionen oder Länder vorgesehen, die in der Vergangenheit unter negativen Umweltauswirkungen gelitten haben. Doch allzu oft bleibt diese Klimagerechtigkeit ein Papiertiger. In seinem Bemühen, auf erneuerbare Energien umzusteigen, berücksichtigt der Globale Norden selten, wie sich ein solcher Übergang auf den Globalen Süden auswirkt.

Als Reaktion auf die sich beschleunigende Klimakrise haben Aktivist*innen und politische Entscheidungsträger*innen in den letzten Jahren die Regierungen aufgefordert, sich von fossilen Brennstoffen zu verabschieden und gleichzeitig neue Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien zu schaffen, insbesondere für die in der Öl-, Gas- und Kohleindus­trie Beschäftigten. Diese Vorschläge lassen sich grob in die Kategorie der «New Deals» einordnen, die sich auf die von Franklin D. ­Roosevelt zur Rettung der US-Wirtschaft während der Grossen Depression in den 1930er Jahren aufgelegten staatlichen Konjunkturprogramme beziehen.

Im Globalen Norden anerkennen diese Abkommen die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit mit Dekarbonisierung zu verbinden, um so schnell wie möglich von der Nutzung fossiler Brennstoffe wie Kohle, Erdgas oder Öl wegzukommen. Es ist zuzugeben, dass sie ein Fortschritt sind gegenüber dem blinden Glauben an Entwicklungsversprechen und Verhandlungslösungen. Aber selbst der «Europäische Grüne Deal», das wohl ehrgeizigste Übereinkommen, das es bisher gab, schlägt keine umfassende wirtschaftliche Umgestaltung vor. Das im Dezember 2019 erstmals vorgestellte Programm verspricht ein vom Ressourcenverbrauch entkoppeltes Wirtschaftswachstum, die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien auf 40 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs, die Steigerung der Energieeffizienz durch Renovierung von 35 Millionen Gebäuden, die Schaffung von 160’000 neuen grünen Arbeitsplätzen im Bausektor sowie die Förderung des ökologischen Landbaus, um die landwirtschaftliche Produktion, den Vertrieb und den Verbrauch nachhaltiger zu gestalten.

Es handelt sich um ein weitreichendes Spiel, das als eine Art «passive Revolution» funktioniert, wie unser Kollege Ulrich Brand von der Universität Wien bemerkt: «Es ist ein Versuch der Eliten, die Ressourcenbasis der Wirtschaft, die Energiebasis, zu verändern, ohne die Machtstruktur oder die vorherrschende kapitalistische Logik des Wachstums und der Akkumulation zu verändern.»

Beim US-amerikanischen «Neuen Grünen Deal» wiederum handelt es sich weitgehend um Absichtserklärungen in Form einer unverbindlichen Resolution im Kongress, aber nicht um ein Gesetz. Er hat einige der klimapolitischen Massnahmen der Regierung Biden beeinflusst, aber die wichtigsten Teile dieser Agenda wurden vom Kongress nicht genehmigt.

Über die Energiewende hinaus

Betrachten wir die wirtschafts- und staatspolitische Dimension dieser hegemonialen «Neuen Grünen Deals», so müssen wir sie aus der Per­spektive konkreter lokaler, nationaler und regionaler Auseinandersetzungen, aber auch aus der weiteren Perspektive geopolitischer Auseinandersetzungen verstehen. Angesichts der derzeitigen Turbulenzen sind auf vielen Ebenen Ungereimtheiten zu beobachten. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass die Regierungen nicht in der Lage sind, auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren. So hat die Regierung in den USA, obwohl der «Green New Deal» Teil des Wahlprogramms von Joe Biden war, bereits Millionen von Hektaren für die Offshore-Ölförderung freigegeben. China setzt trotz seines «Plans 2060» weiterhin massiv auf Kohle, obwohl es das Land mit den höchsten CO2-Emissionen der Welt ist. Die Europäische Union selbst hat nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs und angesichts der Unmöglichkeit, den Nettonullpunkt zu erreichen, sogar Gas und Atomenergie als «grün» definiert.

Ausserdem führten viele dieser Vorschläge dazu, dass die ökosoziale Transformation auf die Energiewende reduziert wurde. Es dominiert also die Konzernvision einer Energiewende, die vom Norden in den Globalen Süden verlagert wird und ein Modell fortsetzt, das auf die Logik der Kapitalkonzentration und auf das Geschäftsmodell des fossilen Brennstoffregimes baut. Damit wird das hierarchische Schema der kolonialen Intervention verewigt, mit den bekannten rücksichtslosen Ausbeutungsformen. Ein Beispiel für diese Konzernwende, die eine «Scheinlösung» darstellt, ist das, was derzeit im sogenannten «Lithium-Dreieck» (Nordargentinien, Chile und Bolivien) geschieht. Dort beobachten wir eine Reorganisation des Extraktivismus für die grüne Wende im Globalen Norden. Ein weiteres deutliches Beispiel ist die Abholzung des ecuadorianischen Amazonasgebiets, um in grossem Massstab Balsaholz für den Bau von Windturbinenflügeln im Norden exportieren zu können.

Mit dem ökosozialen und interkulturellen Pakt des Südens protestieren wir gegen diese erneute Intensivierung des Extraktivismus im Namen einer «Energiewende» des Nordens. Was die hegemonialen «Green Deals» als «Transformation» bezeichnen, ist eher eine Diversifizierung der Energiematrix. Selbst in den wohlmeinendsten Vorschlägen, die soziale Gerechtigkeit mit Umweltgerechtigkeit verbinden wollen, beschränkt sich die «gerechte Transformation» meist auf den nationalen Bereich und berücksichtigt die Auswirkungen auf den Globalen Süden nicht. Diese Art von «Deals» sind ein Modell ökologischer Transformation (einschliesslich der Digitalisierung), das die Logik der kapitalistischen Akkumulation nicht aufgibt und weiterhin die Möglichkeit eines unbegrenzten Wachstums behauptet. Infolgedessen bleibt in Bezug auf den Stoffwechsel die mangelnde Nachhaltigkeit des fossilen Systems erhalten, da dieses Wachstumsmodell eine gesteigerte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen erfordert.

Im Gegensatz zu diesen Vorschlägen wollen wir vom Süden aus über gerechte Transformationen nachdenken, um nicht weiterhin vom Norden bestimmt und rekolonialisiert zu werden. Es ist auch notwendig, dass wir uns von sektorspezifischen Konzepten lösen und eine mehrstufige, ganzheitliche und integrierte Sichtweise der sozialökologischen Transformationsprozesse entwickeln. Eine Energiewende, welche die massiv ungleiche Verteilung der energetischen Ressourcen nicht thematisiert, sie nicht aus der Marktlogik befreit und dekolonialisiert und die auch nicht die Widerstandskraft und Regenerationsfähigkeit von Zivilgesellschaft und Lebensnetz stärkt, kann nur eine partielle Reform zustande bringen. An den strukturellen Ursachen des Zusammenbruchs, den wir erleben, ändert sie nichts.

Von der Kritik zur Alternative

Der ökosoziale und interkulturelle Pakt des Südens ist kein an Regierungen gerichteter Forderungskatalog. Er lädt vielmehr dazu ein, miteinander an einer Vision zu arbeiten. Er soll der Transformation eine gemeinsame Richtung und eine Grundlage geben, auf der die diversesten Formen und Strategien der Veränderung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaften gedeihen können. Er will soziale Bewegungen und Basisinitiativen, indigene Völker, die LGTBIQ+-Community, Feminist*innen, Frauen-, Umwelt-, Gewerkschafts- und Stadtteilorganisationen, Dorfgemeinschaften und Netzwerke zusammenbringen. Wir rufen aber auch alternative lokale Regierungen dazu auf, durch Volksabstimmungen, Gesetzesvorschläge oder andere Strategien zusammen mit einer organisierten und mobilisierten Zivilgesellschaft echte Veränderungen in den bestehenden Insti­tutionen durchzusetzen.

In diesem Sinne zielen die folgenden Punkte darauf ab, Umverteilungs-, Geschlechter-, ethnische und ökologische Gerechtigkeit miteinander zu verknüpfen. Einige von ihnen sehen eine führende Rolle für öffentliche Insti­tutionen vor, andere beziehen sich eher auf Praxen und Veränderungen von unten, die sich horizontal ausbreiten.

- Solidarische Transformation der Steuerpolitik. Steuerreformen auf nationaler Ebene nach dem Prinzip «Wer mehr hat, zahlt mehr – wer weniger hat, zahlt weniger».

- Annullierung der Auslandsschulden der Länder des Südens und Aufbau einer neuen globalen Finanzarchitektur. Die Annullierung der Auslandsschulden der Länder des Globalen Südens ist ein erster Schritt der historischen Wiedergutmachung im Rahmen der historischen Schuld, die die kapitalistischen Zentren sowohl in ökologischer als auch sozialer Hinsicht seit der Kolonial­zeit auf sich geladen haben.

- Schaffung nationaler und lokaler Pflegesysteme, welche die Sorge um das Leben in den Mittelpunkt unserer Gesellschaften stellen. Pflege im Sinn von Care ist ein Recht und ein Gemeingut. Das erfordert eine aktivere Rolle des Staates und der Unternehmen, die allerdings unter ständiger Konsultation und Mitverantwortung der Bevölkerung und der Gemeinschaften in Formen der Inter- und Umweltdependenz ausgeübt werden muss.

- Ein universelles Grundeinkommen für alle, das die Sozialpolitik vereinheitlicht und die vom Neoliberalismus geerbten, konditionierten und fokussierten Geld­transfers ersetzt, um aus der Armutsfalle herauszukommen.

- Ernährungssouveränität fördern. Es ist vorrangig, Strategien zu entwickeln, die auf die Umverteilung von Land, den Zugang zu Wasser und eine tiefgreifende Reform der Agrarpolitik abzielen; wir müssen Abstand nehmen von der export­orientierten, indus­triellen Landwirtschaft. Damit ökologische Land- und Forstwirtschaft, handwerkliche Fischerei in ländlicher und städtischer Produktion Priorität erhalten, sind entsprechender Wissensaustausch sowie bäuerliche und lokale Vermarktung zu fördern. Saatgut muss frei zirkulieren können und ohne Patente verfügbar sein. Versorgungsnetzwerke zwischen Land und Stadt müssen aufgebaut und gestärkt werden, ebenso gemeinschaftliche Zerti­fizierungsmethoden zwischen Konsument*innen und Produzent*innen. Soziale, kollektive und kommunitäre Eigentumsformen von Land müssen gefördert werden.

- Aufbau von postextraktivistischen Gesellschaften und Ökonomien. Um die kulturelle und biologische Vielfalt zu schützen, brauchen wir einen geplanten, schrittweisen Ausstieg aus der Abhängigkeit von Öl, Kohle und Gas, Bergbau, Entwaldung und grossen Monokulturen.

- Selbstbestimmte Räume der Information und Kommunikation für die Gesellschaft zurückerobern. Derzeit werden Information und Kommunikation von Medienkonzernen und sozialen Netzen dominiert, die zu den mächtigsten Unternehmen unserer Zeit gehören.

- Autonomie und Nachhaltigkeit lokaler Gesellschaften. Die Pandemie hat die Fragilität globaler Produktionsketten und den Reichtum lokaler und nationaler Initiativen aufgezeigt.

- Souveräne regionale und globale Integration. Es ist unabdingbar, lokale, nationale und regionale Tauschsysteme auf lateinamerikanischer Ebene zu fördern, die vom globalisierten Weltmarkt unabhängig sind und Alternativen zu den Konzernmonopolen eröffnen.

Die Stärkung einer gemeinsamen Perspektive im Rahmen des ökosozialen und interkulturellen Pakts des Südens beinhaltet eine pluriversale Vision von Gerechtigkeiten, von ökologischer, ethnischer, sozialer und Geschlechtergerechtigkeit, und sie ist entscheidend für das Wie von gerechten Transformationsprozessen.

Ökologische Schuld und Geopolitik des Wandels

Unsere Vorschläge stellen die Geopolitik des ökosozialen Wandels in den Mittelpunkt. Dies bedeutet, dass wir die Nord-Süd-Beziehungen, ihre Schauplätze und Verläufe als langfristig durch den Zusammenhang zwischen dem kolonialgeschichtlichen Modell der Plünderung in Lateinamerika und dem Kapitalismus/Imperialismus des Globalen Nordens bestimmt sehen.

Ein zentrales Thema für die Geopolitik ökosozialer Transformation, das in den Klimadiskussionen zwischen Nord und Süd auf Regierungsebene oft untergeht, ist die ökologische Schuld. Sie hat ihren Ursprung in der kolonialen Ausbeutung – etwa der Gewinnung von Bodenschätzen oder der massiven Abholzung von Naturwäldern – und findet ihren Niederschlag sowohl im «ökologisch ungleichen Austausch» wie auch in der «unentgeltlichen Besetzung des ökologischen Raums» jener Länder, die bereits durch den imperialen Lebensstil der Industrieländer verarmt sind. Wir glauben, dass uns das eine strategische Gelegenheit gibt, den Dialog mit den Kämpfen und kritischen Bewegungen des Nordens zu vertiefen. Und zwar sowohl im Blick auf eine globale und systemische Perspektive des Degrowth (Postwachstum) wie auch hinsichtlich neuer Möglichkeiten der internationalen Vernetzung von ökologisch-territorialen Kämpfen in verschiedenen Breitengraden. Vor allem aber ist es dringend notwendig, den wichtigen Slogan «Wer schuldet wem?» zeit­gemäss zu aktualisieren.

Zu berücksichtigen ist weiter die Umweltbelastung durch den Export natürlicher Ressourcen aus den Ländern des Südens. Die ökologische Verschuldung nimmt dabei noch aus einem weiteren Grund zu: weil die reicheren Länder das «nationale» Ungleichgewicht ihrer Ökosysteme zu verringern trachten, indem sie direkt oder indirekt Verschmutzungen (Abfälle oder Emissionen) in andere Regionen verlagern, ohne irgendwas dafür zu bezahlen.

Die ökologische Schuld ist schliesslich auch eine Klimaschuld, da bei den historischen Emissionen eine grosse Lücke zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden klafft. So sind Europa und Nordamerika für mehr als 60 Prozent der Kohlenstoffemissionen seit 1750 verantwortlich, Südamerika dagegen nur für 3 Prozent. Dies kann nicht ignoriert werden. Ebenso wenig können wir die ökologische Schuld auf den Bereich monetärer Kompensationen beschränken, die in allen «Pseudolösungen» der «Pseudotransformation» präsent sind. Das liegt daran, dass die Kommerzialisierung der Natur und die Umweltkosten ein System der Ausbeutung in planetarischem Massstab hinterlassen haben und weiterhin hinterlassen werden, das rassifizierte und kolonialisierte Völker unverhältnismässig stark betrifft. Keine Klimagerechtigkeit und keine sozialökologische Transformation ist möglich ohne Wiedergutmachung für diese Schulden.

Zwischen Energiewende und sozialökologischer Gerechtigkeit

In unseren Gesprächen mit Menschen aus anderen Kontinenten des Südens, aber auch aus südlichen Ländern des Globalen Nordens ist deutlich geworden, dass es überall einen Trend zur zunehmenden Ausbeutung von Offshore-Öl, Fracking und weiteren Megaprojekten gibt, die dem Überkonsum des Globalen Nordens dienen. Auch der landwirtschaftliche Extraktivismus eignet sich als intensive industrielle Monokultur alle Wasser-, Luft- und Boden­ressourcen an. Die Konzernherrschaft in allen unseren Ländern ist alarmierend.

Dies steht in krassem Gegensatz zu den Ankündigungen einer «grünen Wende». «Wir erleben», sagt der algerisch-britische Forscher Hamza Hamouchene, «keine Energiewende, sondern eine Energieexpansion.» Wir erinnern an die Worte des mexikanischen Entwicklungskritikers Gustavo Esteva: «Die Welt um uns herum bricht zusammen, die Ideen, welche die Welt in den letzten zweihundert Jahren beherrscht haben, verfallen. Die Eliten haben es versäumt, auf die Botschaften der Natur zu hören. Gewalt, Korruption und die Schwächung der Demokratie überraschen mich nicht, denn ihre Wurzel ist die Gier. Der Kapitalismus mutiert, er krabbelt weiter wie die Vipern, wenn sie ihre Haut wechseln.»

Wenngleich sich die sozialökologischen Transformationen nicht mit der Energiefrage begnügen können, ist doch ein struktureller Wandel des Energiesystems, des Produktionsmodells und der Beziehungen zur Natur un­abdingbar. Die Grundlinien des ökosozialen und interkulturellen Pakts des Südens für das, was wir unter Energiewende verstehen, sind:

- Energie ist ein Recht und Energiedemokratie ein Zielhorizont für den Erhalt der Lebensnetze.

- Soziale Gerechtigkeit ist mit Umwelt­gerechtigkeit zu verbinden. Energiearmut ist zu beseitigen. Ökosoziale Gerechtigkeit bedeutet einen Abbau von Machtverhältnissen, welche nach wie vor den Zugang zu ihr nur einer privilegierten Gruppe der Gesellschaft gewähren, verletzliche Gruppen ausschliessen und feminisierte Körper sowie die Natur verdinglichen.

- Unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften sind zu dekarbonisieren. Dies ist im Süden eine grössere Herausforderung als im Norden, sowohl wegen des ökologischen, historischen und kolonialen Fuss­abdrucks, den die Ausbeutung hinterlassen hat, als auch wegen des Vorhandenseins natürlicher Ressourcen im Süden.

- Unsere wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen sind von den fossilen Brennstoffen zu entkoppeln.

- Das System ist zu verändern, nicht nur die Energiematrix. Es ist zu dezentralisieren, zu entprivatisieren, zu dekommodifizieren, zu depatriarchalisieren, zu reparieren und zu heilen.

- Umzugestalten sind das Produktionsmodell, das System der sozialen Beziehungen und der Beziehung zur Natur.

- Vorsicht vor den «Pseudolösungen»: Grenzen und Ambivalenzen der erneuerbaren Energien (Lithium, Übergangsmineralien) sind zu beachten. Dazu gehört auch der Konsens, den Konzerne und Staaten an Klimakonferenzen erzielen, um Energiemodelle umzusetzen, die für den Süden problematische Themen wie grünen Wasser­stoff, intelligente Landwirtschaft, Kohlen­stoffmärkte, Geo-Engineering und andere Vorschläge betreffen, welche da­rauf abzielen, die Energiemachtverhältnisse zwischen dem Norden und dem Globalen Süden aufrechtzuerhalten.

- Fossile Brennstoffe werden über kurz oder lang obsolete Vermögenswerte sein. Sie im Boden zu belassen bedeutet einen Paradigmenwechsel und gibt der Natur als Ressourcenlieferantin einen neuen Sinn.

Wir greifen damit Ideen und Konzepte auf, die in den letzten Jahrzehnten in der Hitze der Kämpfe geschmiedet wurden, und stellen uns auf ihre Seite: Rechte der Natur, das Buen vivir (gutes Zusammenleben in Gesellschaft und Natur), Umverteilungsgerechtigkeit, Care, gerechte Transformationen, Autonomie, Postextraktivismus, ökoterritorialer Feminismus, Ernährungssouveränität und Autonomie. Darum plädieren wir für einen anderen Pakt: nicht den hegemonialen «Grünen Pakt» der Vereinbarungen und Deals unter den Üblichen, sondern für einen Pakt mit dem Land, vom Süden und für den Süden. Einen Pakt, der als Verpflichtung zu anderen Formen des Seins und des Umgangs mit und in der Welt zu verstehen ist. ●

  • Autor*innenkollektiv Transformation,

    Autor*innen:

    Maristella Svampa ist Schriftstellerin, Soziologin und Aktivistin. Sie lehrt an der Nationalen Universität von La Plata, Argentinien.
    Publikationen: Die Grenzen der Rohstoffausbeutung. Umweltkonflikte und ökoterritoriale Wende in Lateinamerika. Bielefeld 2020. Epochenwechsel in Lateinamerika. Progressive Regierungen, Extraktivismus und soziale Bewegungen. Münster 2020.

    Alberto Acosta Espinosa war 2007/08 Präsident der verfassunggebenden Versammlung Ecuadors. Er ist Professor für Ökonomie an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften in Quito.

    Enrique Viale ist Präsident der argentinischen Vereinigung der Umweltanwält*innen und Mitglied des ­International Rights of Nature Tribunal der Global Alliance for the Rights of Nature (GARN).

    Miriam Lang ist Koordinatorin des Masterstudiengangs Klimawandel und Umweltverhandlungen an der Universidad Andina Simón Bolívar in Ecuador und Professorin für den Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit.

    Breno Bringel ist Professor für politische Soziologie an der Universidade do Estado do Rio de Janeiro ­(Brasilien) und Vorsitzender der lateinamerikanischen Vereinigung für Soziologie.

    Raphael Hoetmer ist niederländischer Soziologe. Er erforscht und berät soziale und ökologische Bewe­gungen in Peru.

    Carmen Aliaga ist Anthropologin und arbeitet in der Nichtregierungsorganisation CASA in Oruro (Bolivien), welche soziale und Umweltbewegungen begleitet.

    Liliana Buitrago arbeitet im Institut (Observatorio) für politische Ökologie in Venezuela.