Wie wenig wir wissen über unsere Gesellschaft. Die vielen Menschen mit eritreischem Hintergrund, die wir für diesen Artikel getroffen haben, machen uns das deutlich. In den letzten drei Jahrzehnten ist die vielgestaltige eritreische Community zu einem festen Teil dieses Landes geworden. Einem Teil, der bleibt. Aber diese Menschen finden noch kaum Gehör, weder in den Medien noch im kulturellen Bereich und schon gar nicht in der Politik. Das muss sich ändern. Und das wird sich ändern, wenn auch sehr langsam. Der 31-jährige Samson Yemane, der als Jugendlicher mit seinen Eltern über das Mittelmeer in die Schweiz flüchtete und heute in Lausanne als SP-Abgeordneter im Gemeindeparlament sitzt, gehört zu jenen, die eine Stimme haben. Er verortet sich im Gespräch so: «Ich bin Schweizer, j’adore la Suisse, die Schweiz ist Teil meiner Kultur, ich erkenne mich in der Vielfalt der Schweiz wieder.» Wir treffen ihn in Bern, wo der Politikwissenschaftler öfter beruflich unterwegs ist. Als Mitarbeiter der Schweizerischen Flüchtlingshilfe leistet er Sensibilisierungsarbeit für eine vielfältige und offene Schweiz, und auch als Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus hat er in der Hauptstadt zu tun. Ganz besonders interessiert ihn, wie es zu Herrschaftsverhältnissen kommt und was strukturellen Rassismus ausmacht. Zu diesem Thema gibt er den kommunalen oder kantonalen Polizeikorps oder auch Gymnasiallehrer*innen Weiterbildungen, für deren Zustandekommen er zuvor auf parlamentarischem Weg gekämpft hat. In Samson Yemane brennt ein politisches Feuer.
Samson Yemane ist Schweizer. Ohne Schweizerpass beziehungsweise noch ohne Schweizerpass lebten im Juni 2023 gemäss Zahlen des Bundes über 43’000 Menschen mit eritreischem Hintergrund in diesem Land. Unter den Kindern der sogenannten ausländischen Wohnbevölkerung sind die Eritreer*innen nach den Angehörigen fünf europäischer Staaten die sechstgrösste Gruppe, wie das Bundesamt für Statistik auflistet. Die neue Schweiz des 21. Jahrhunderts ist definitiv auch eritreisch.
Im November 2023 demonstrieren Eritreer*innen vor dem Bundeshaus. Wir gesellen uns dazu, kennen aber nur einige der wenigen einheimischen Asylaktivist*innen, die dabei sind, und noch keine eritreischen Menschen. Auf einem grossen Transparent steht die zentrale Forderung: «Schweizer Kollaboration mit dem eritreischen Regime stoppen – Passbeschaffungspflicht für Eritreer*innen abschaffen». Wie der lange Arm der Diktatur bis in die Schweiz hineinreicht, weiss hierzulande auch nach Jahren asylpolitischer Auseinandersetzungen noch kaum jemand. Auch wir erfahren es erst hier.
Zum Beispiel von Samuel Okubay. Er ist 24, Sanitärinstallateur und Vater eines fünfjährigen Jungen. An seinem Wohnort hat er den Fussballklub Eri Zug mitgegründet, bei dem er selber mitkickt. Das ist seine Antwort auf die Erfahrung, wie steinig und einsam der Weg für viele junger Eritreer*innen in diesem Land ist. Er unterstützt seine jungen Klubkollegen bei der Stellensuche. Alle 16 Spieler absolvieren heute eine Lehre oder haben diese bereits abgeschlossen und sind berufstätig. Samuel Okubay arbeitet beim Eritreischen Medienbund Schweiz mit, einer Organisation, die der eritreischen Diaspora in der Schweiz eine Stimme in der Öffentlichkeit verschafft. Bei unseren Recherchen stossen wir immer wieder auf sie.
Samuel Okubay erklärt in seiner Rede auf dem verregneten Bundesplatz: «Die meisten Eritreer*innen sind aufgrund von Verhaftung, Folter, Zwangsarbeit und dem unbefristeten Militärdienst aus Eritrea geflüchtet. Wir haben den gefährlichsten Fluchtweg auf uns genommen, durch die Saharawüste und über das Mittelmeer nach Europa, weil uns nichts anderes übrigblieb. Trotz dieser Herausforderungen sind die meisten von uns gut integriert, haben ihre Ausbildung abgeschlossen und sind festangestellt. Das sind die Voraussetzungen, um nach fünf Jahren eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F) in eine normale Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B) umwandeln zu können. Aber wenn wir keinen gültigen eritreischen Pass vorlegen können, weigern sich die schweizerischen Behörden, unsere Anträge zu bearbeiten.» Das Gleiche gelte auch für Menschen, die heiraten oder etwa Verwandte in einem Nachbarstaat besuchen wollten.
Ein Mann hält auf dem Platz ein selbst geschriebenes Schild hoch: «Geflohen vor der Diktatur, und jetzt bei ihr um den Pass bitten». Wer bei der eritreischen Vertretung in Genf einen Pass beschaffen muss, handelt sich gravierende Konsequenzen ein. Die Person wird gezwungen, illegale Diasporasteuern in der Höhe von 2 Prozent des Einkommens an die Diktatur abzuliefern und eine «Reueerklärung» zu unterzeichnen: «Ich bereue, ein Vergehen begangen zu haben, indem ich meine nationalen Verpflichtungen nicht erfüllt habe […]. Ich bin bereit, die angemessenen Massnahmen zu akzeptieren, über die noch entschieden wird.» Geflüchtete müssen sich verleugnen, ja lügen, weil die Schweiz die Beschaffung von Papieren bei der diplomatischen Vertretung des Regimes als zumutbar erachtet – anders als etwa im gleichen Fall das deutsche Bundesverwaltungsgericht und anders als die Schweizer Behörden heute im Fall von afghanischen Geflüchteten. Wenn die eritreischen Menschen später versuchen, dem Zugriff ihrer Botschaft wieder zu entkommen, oder sich hier politisch betätigen, kann dies dramatische Konsequenzen haben. Es ist belegt, wie Geflüchtete oder ihre Verwandten in Eritrea vom Regime eingeschüchtert oder erpresst werden können. Das eritreische Regime versucht über seine diplomatische Vertretung sowie über ein Netzwerk von Spitzeln und Helfershelferinnen, das weitverzweigt in die Kantone hineinreicht, die Diaspora zu kontrollieren. Die eritreische Repression ist transnational.
An der Kundgebung auf dem Bundesplatz ergreifen Menschen spontan das Wort: «Die Schweiz ist ein freies Land, sie muss die hier lebenden Menschen schützen.» Wir erfahren, wie Geflüchtete echt schockiert sind, dass die demokratische Schweiz sie hier nicht stärker vor dem Zugriff der Diktatur bewahrt. «Wie kann es sein, dass die Schweiz gegen diese Machenschaften des Regimes nicht stärker vorgeht?»
Damit, so viel verstehen wir, sind die aktuellen Auseinandersetzungen angesprochen, von denen die Medien berichten. An einem Samstag im Februar 2024, mitten in unseren Recherchen, erhalten wir von Menschen mit eritreischem Hintergrund, die wir kennengelernt haben, plötzlich einen Anruf. In Villars-sur-Glâne bei Fribourg komme es zu einer Konfrontation zwischen Eritreer*innen, die eine Veranstaltung zur Stützung des diktatorischen Regimes organisierten, und Oppositionellen. Ob wir Medienschaffende benachrichtigen könnten, die objektiv berichten würden. Es gelang nicht. Die Regionalzeitung titelte am folgenden Tag: «Mit Stöcken bewaffnete Eritreer sorgten für Unruhe». Die Polizei, die mit einem Grossaufgebot vor Ort war, sprach von «Störung der öffentlichen Ordnung» anlässlich einer «friedlichen Versammlung» von Eritreern, welche befürchtet hätten, dass diese von «gewaltbereiten Landsleuten» gestört würde. Die Ausübung von Gewalt liegt in diesem Diskurs nicht aufseiten der Diktatur.
Wir möchten die Konflikte – am selben Samstag machten auch schwere Ausschreitungen in Den Haag Schlagzeilen – einordnen und sprechen mit dem Politikwissenschaftler Samson Yemane darüber. Er erzählt: «Zum ersten Mal kam es hier 2014 zu physischen Auseinandersetzungen, ich war damals als 22-Jähriger in Genf auch mit dabei.» In jenen Jahren habe sich das Regime verfestigt. Mehr Menschen seien in Eritrea ins Gefängnis geworfen worden. Und die immer zahlreicheren Menschen in der Diaspora, auch in der Schweiz, seien von Kräften des Regimes stärker unter Druck gesetzt und überwacht worden. «Wir wollten und wollen keine Regierungsveranstaltungen in der Schweiz. Denn es geht dort erstens darum, Geld zu sammeln für das Regime, zweitens um Propaganda und drittens um den Anschein guter Beziehungen zwischen dem Regime und den Staaten wie der Schweiz, ohne dass sich wirklich etwas verändert.»
Samson Yemane versteht nicht, weshalb nicht in allen Kantonen versucht werde, regimetreue Veranstaltungen zu verhindern, so wie in Genf oder in der Waadt, wo keine Säle mehr zur Verfügung gestellt würden, wenn klar sei, dass regimetreue Kräfte eine Örtlichkeit für eine sogenannte Kulturveranstaltung suchten. In Lausanne werde umgehend eine Untersuchung durchgeführt, wenn eine eritreische Einzelperson einen Saal reserviert. «Das erwarten wir überall in der Schweiz.» Denn junge Eritreer*innen würden auch deshalb ihrer Wut Ausdruck geben, weil sie die Verbindung mit dem Regime, die in diesen Veranstaltungen deutlich werde, aufdecken wollten. Sie seien jung und gut organisiert, sie vereinten sich nun hinter einer Flagge, der blauen, in Opposition zur Regierung. Aber sie seien gewaltbereiter. «Ihre Eltern sind oft in Eritrea. Asyl zu erhalten ist für viele von ihnen schwierig, sie leben in einem prekären Status. Viele sind enttäuscht, dass die Schweiz auf ihrem Boden Propaganda des Regimes erlaubt, dagegen wollten sie zur Tat schreiten.» Menschen wie er suchten mit den Jungen das Gespräch, würden sie bitten, keine Gewalt anzuwenden, denn die negativen Konsequenzen seien offensichtlich. «Aber gleichzeitig verstehe ich die Frustration, es ist ähnlich wie beim Klimastreik. Ich erachte die Militanz als legitim. Wir müssen analysieren, weshalb es so weit kommt. Die Schweizer Behörden sind vorsichtig mit deutlicher Kritik am eritreischen Regime, denn man will Verhandlungen über ein Rückkehrabkommen, das über Jahre nicht zustande gekommen ist, nicht gefährden.»
Wir nehmen in verschiedenen Begegnungen die Wut und Frustration unter jungen Eritreer*innen wahr. An der Kundgebung auf dem Bundesplatz formuliert jemand am Mikrofon in der eritreischen Hauptsprache Tigrinya und gleich auch auf Deutsch ein Grundgefühl eritreischen Lebens im Herkunftsland, das sich auch in der Diaspora weiterzieht: «Wir sind nicht gestorben, aber wir leben auch nicht.»
Dass viele eritreische Geflüchtete auch in den ersten Jahren in Europa in diesem Grundgefühl weiterleben müssen, hängt mit Fremdenfeindlichkeit und rechter Migrationspolitik zusammen. Eritreische Menschen sind in den letzten zwei Jahrzehnten Manipuliermasse populistischer Asylpolitik par excellence geworden.
Es überrascht nicht, dass gerade die SVP in der Schweiz gegen eritreische Geflüchtete Stimmung macht und dabei handfest zu deren kollektiver Stigmatisierung beiträgt. Samson Yemane konstatiert im Gespräch mit uns Formen von Rassismus, die sich gezielt auf die Gruppe der Eritreer*innen richten: «Wir sind angeblich Menschen, die nicht viel arbeiten, die nie pünktlich erscheinen, deren Essen stark riecht, deshalb soll man zweimal überlegen, ob man uns eine Wohnung vermietet, und jetzt kommt noch hinzu, dass wir Menschen sind, die ihre Konflikte in die Schweiz importieren und mit Gewalt aufeinander losgehen.» Gegen die Wahlkampagne «Neue Normalität» der SVP Schweiz haben der Eritreische Medienbund Schweiz und der Verein Linke POC eine Strafanzeige wegen Diskriminierung und Aufruf zu Hass eingereicht: «Die SVP Schweiz versucht mit selektiven Berichten über Straftaten den Eindruck zu erwecken, dass Menschen fremd wahrgenommener Ethnie und rassifizierte Menschen kriminell und gefährlich seien, und setzt diese damit in bedeutender Weise herab. Hierzu bestückt sie ihre Mitteilungen mit Symbolbildern rassifizierter Menschen, häufig von Schwarzen Menschen.»
Auch liberalere Politiker*innen wie der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller betreiben mit dem Thema Eritreer*innen in der Schweiz Politik. Um ein Haar hätte ein paar Tage vor Weihnachten 2023 sein völkerrechtswidriger und menschenfeindlicher Vorschlag im Parlament eine Mehrheit gefunden: Er wollte abgewiesene Asylsuchende aus Eritrea, die sich weigern zurückzureisen, in ein Drittland – sein Vorschlag: Ruanda – abschieben. Am 13. März 2024 sehen wir Damian Müller in dieser Sache im Ständerat schon wieder am Rednerpult. Er verlangt Unterstützung für einen Vorstoss, der den Bundesrat zu Verhandlungen mit Senegal verpflichten will, damit mit einem – gemäss Bundesrat aussichtslosen – Transitabkommen Eritreer*innen nach Westafrika abgeschoben werden könnten. Er macht eine Staatsaffäre aus diesem Thema, als ob die Asyl- und Migrationspolitik durch solche Grenzüberschreitungen wesentlich entlastet werden könnte. Aber er gesteht gleichzeitig ein, dass es eigentlich nur um 300 eritreische Personen gehe, die sich aktuell illegal in der Schweiz aufhalten und nirgendwohin ausgeschafft werden könnten. Bundesrat Jans macht ihn und seine Kolleg*innen darauf aufmerksam, dass viele der Eritreer*innen im Status der vorläufigen Aufnahme schon lange hier seien, viele gut integriert, und über die Hälfte dieser Gruppe hier geboren seien. Das Thema Abschiebung habe eine menschliche Komponente. Wir wollten mit Damian Müller darüber sprechen, auch eritreische Gesprächspartner*innen ermutigten uns zu diesem Dialog. Er stand leider aus Termingründen für ein Gespräch nicht zur Verfügung.
Damian Müller unterstreicht im Ständerat seine Position mit Schilderungen der Ausschreitungen gegen regimefreundliche Eritreaveranstaltungen der letzten Monate. Er bringt – wohl mit Absicht – maximal viel durcheinander. Denn jene Geflüchteten, die, wenn es nach ihm ginge, unser Land verlassen müssten, sind nicht diejenigen, die regimefreundliche Veranstaltungen besuchen oder gar organisieren. Die Menschen, die hinter dem Regime stehen, sind allermeistens vor Jahrzehnten in die Schweiz gekommen und fast alle längst Bürger*innen dieses Landes. Sie gehören zur Schweiz und sind kein Fremdkörper, den man abstossen könnte. Auf der anderen Seite stehen die allermeisten Eritreer*innen, die gegen die Diktatur protestieren, zu Recht unter dem Schutz des Flüchtlingsrechts. Gemäss Zahlen des Staatssekretariats für Migration für 2023 ist die Anerkennungsquote hoch: Bei Asylgesuchen von Eritreer*innen beträgt sie knapp zwei Drittel, die Schutzquote beläuft sich gar auf 82,3 Prozent. Zu den Schutzberechtigten gehören, neben jenen mit einem positiven Asylentscheid aufgrund individueller Fluchtgründe, auch alle Fälle einer vorläufigen Aufnahme. Rückführungen der Geflüchteten in das Herkunftsland sind aufgrund der politischen Situation in Eritrea und des entsprechenden menschenrechtlichen Schutzes nicht möglich.
Fakt ist: Die Asylpraxis gegenüber eritreischen Geflüchteten wurde in der Schweiz 2016 verschärft, was viele Geflüchtete in die Prekarität stiess. Die drohende Rekrutierung für den zeitlich unbefristeten Nationaldienst gilt nicht mehr als ausreichender Grund für eine Anerkennung als Flüchtling. Wer aufgrund eines negativen Asylentscheids und einer Wegweisungsverfügung mit einer vorläufigen Aufnahme nur geduldet ist, hat es schwer. Die Hürden, eine Arbeit zu finden, sind oft unüberwindbar, die Sozialhilfe ist minim, das Recht auf Familiennachzug ist verletzt und die Freiheit, in andere Länder zu reisen, fehlt. Abhilfe schaffen würde eine Ausdehnung des Schutzstatus S, der für Geflüchtete aus der Ukraine gilt, auch auf andere Gruppen aus Kriegs- und Krisenstaaten.
Die Schweizer Behörden erachten dennoch Rückschaffungen nach Eritrea grundsätzlich als zumutbar, auch wenn das Regime bockt. Das ist blauäugig. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe wendet sich dagegen. Der UNO-Folterausschuss hat in letzter Zeit in mehreren Fällen Wegweisungen aus der Schweiz nach Eritrea gestoppt, weil keine Garantie bestehe, dass es im Herkunftsstaat nach der Rückkehr nicht zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen käme. Genau dies passierte in einem 2022 vom Recherchekollektiv Reflekt, der Republik und der SRF-Rundschau dokumentierten Fall. Ein eritreischer Geflüchteter kehrte nach einem negativen Asylentscheid in die eritreische Hauptstadt Asmara zurück, wurde dort verhaftet und gefoltert. Nach seiner zweiten Flucht in die Schweiz haben die hiesigen Behörden seine Asylgründe unterdessen anerkannt.
Da Zwangsrückführungen nach Eritrea nicht durchführbar sind, landet seit der verschärften Wegweisungspraxis eine wachsende Anzahl von Personen in der Langzeitnothilfe. Diese Menschen – viele von ihnen psychisch schwer angeschlagen – leben in äusserst prekären Situationen in sogenannten Rückkehrzentren. Durch das Abschieben von jungen Menschen an Orte mit der Bezeichnung «Rückkehrzentrum» und durch politische Kampagnen rechter Parteien verfestigt sich in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass die eritreischen Menschen eigentlich wieder verschwinden müssten und verschwinden werden. In dieser Perspektive zählen sie jedenfalls nicht zur neuen Schweiz. Dabei: «Die Mehrheit der Eritreer*innen», so betont Samson Yemane, «leisten ein Maximum, um sich hier wohlzufühlen, sich zu integrieren. Und viele fühlen sich hier sehr wohl, trotz aller Hürden.» Denn es sei unter den gegebenen Voraussetzungen für jugendliche oder erwachsene Geflüchtete unglaublich schwierig, hier ein Leben zu beginnen. «Die eritreische Community ist keine gescheiterte Gemeinschaft. Ich bin sehr stolz auf viele Eritreer*innen.»
Andi Geu pflichtet ihm bei. Wir treffen den vielbeschäftigten Philosophen und Sozialwissenschaftler frühmorgens zu einem Kaffee in Bern. Geu kennt als Geschäftsleiter der NGO National Coalition Building Institute NCBI die Situation der Eritreer*innen in der Schweiz gut. Im Austausch mit vielen Geflüchteten, insbesondere nach der Ankunft grösserer Gruppen von Eritreer*innen 2013, war er massgeblich an der Entwicklung grösserer Projekte beteiligt. NCBI bildete zahlreiche eritreische «Brückenbauer*innen», Schlüsselpersonen aus der Community, für die Beratung und Begleitung von Geflüchteten aus. Andi Geu war auch an der Entstehung des schweizerischen Flüchtlingsparlaments beteiligt. «In den letzten Jahren», so erklärt uns Geu im Gespräch, «hat sich vieles verändert. Die negative Aufmerksamkeit der schweizerischen Öffentlichkeit ist trotz der aktuellen Ereignisse nicht mehr derart stark auf Eritreer*innen gerichtet, es kommen auch weniger Menschen in der Schweiz an. Die hier lebenden Eritreer*innen haben durch lange Anstrengungen gelernt, auf ihre eigenen Ressourcen zu bauen, Institutionen haben anderes Wissen, es finden gegenseitige Lernprozesse statt. Ich kenne viele Erfolgsgeschichten. Oder zumindest hat man sich ein wenig aneinander gewöhnt.»
Vor zehn Jahren war das nicht so. Damals beobachtete Andi Geu, dass unter den neu ankommenden Eritreer*innen etwas entscheidend anders lief als bei anderen Gruppen: «Bei vielen migrantischen Communitys – heute auch unter Eritreer*innen – wenden sich neu Ankommende an jene, die schon hier sind. Das hat bei den Eritreer*innen damals nicht funktioniert. Die Menschen, die schon hier waren, als etwa ab 2013 plötzlich viel mehr und jüngere Geflüchtete ankamen, waren regimetreu. Das führte sofort zu politischen Spannungen zwischen diesen zwei Generationen, es gab kein Vertrauen.» Auch Samson Yemane erinnert sich gut an jene Zeit: «Als ich mit etwa vierzehn Jahren mit meinen Eltern in der Schweiz ankam, verstand ich nicht, dass es hier Eritreer*innen gab, die das Regime unterstützten. Das war für mich ein Schock. Erst später verstand ich: Vor etwa 2002 war die Emigration der Eritreer*innen nicht systematisch an die politische Lage im Land gebunden, wenn schon an den Krieg mit Äthiopien. Dann wurde das System totalitärer. Viele Eritreer*innen, die früher nach Europa kamen, kennen das Land heute über das staatliche Fernsehen, über die Ferien dort. Sie verschliessen die Augen vor der brutalen Realität, weil sie gewisse Interessen haben; sie wollten nicht ein Land kritisieren, das vor kurzem seine Unabhängigkeit errang, für die viele Menschen ihr Leben lassen mussten.»
Andi Geu erzählt uns weiter, wie vor ungefähr zehn Jahren viele der neu ankommenden aus Eritrea geflüchteten Menschen in der schweizerischen Gesellschaft anfänglich völlig verloren gewesen seien: «Viele von ihnen waren traumatisiert und sie kamen zum Teil mit wenig Schulbildung an.» Das Bildungssystem in Eritrea ist auf den unbegrenzten Nationaldienst, auf die Armee ausgerichtet. Es geht nicht darum, den Menschen eine individuelle Zukunft zu ermöglichen, sondern sie möglichst schnell für den Staat in Dienst zu nehmen.
Was ist dieser Nationaldienst genau? Weshalb ist er aus menschenrechtlicher Sicht so problematisch? Wir fanden fast gleichentags eine verlässliche Antwort beim UNO-Sonderbeauftragten für die Menschenrechtslage in Eritrea. Mohamed Abdelsalam Babiker sagte am 29. Februar 2024 vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf, dass die Eritreer*innen aufgrund der unbefristeten Wehrpflicht weiterhin groben und schrecklichen Misshandlungen ausgesetzt seien, darunter Zwangsarbeit und sexueller Gewalt. «Ich erhalte regelmässig Informationen über Personen, die in den letzten zwanzig Jahren eingezogen wurden und die ihrer bürgerlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte beraubt wurden, darunter das Recht auf Arbeit, das Recht auf Leben, Familienleben, Freizügigkeit und das Recht auf Bildung. Darüber hinaus werden Wehrdienstverweigerer, ihre Familien und ihre Gemeinden schwer und kollektiv bestraft.»
Zurück zu Andi Geu und der Situation der Eritreer*innen, die in den 2010er Jahren in der Schweiz ankamen: «Am Aufenthaltsstatus lagen die Probleme nicht. Die allermeisten Geflüchteten erhielten damals als Militärdienstverweigerer*innen relativ schnell Asyl und einen Aufenthaltsstatus B, was den Familiennachzug erleichterte. Aber für sie schien das erste Bedürfnis nach der Entwurzelung und oft jahrelangem, brutalem Fluchtweg das Ankommen, das Wohnen, das Schaffen eines sicheren Orts zu sein. Die Schweiz erwartete hingegen Spracherwerb als erstes Zeichen für Kooperationsbereitschaft.» Auf all dies waren die wenigsten vorbereitet. Das hat viele überfordert. Und das wiederum hat die Schweiz überfordert. Das damals geschaffene Bild einer gescheiterten eritreischen Einwanderung mit hoher Anspruchshaltung, wenig Integrationsbereitschaft und einer übermässigen Sozialhilfequote, alles unterfüttert mit einer Portion Rassismus, wie Geu sagt, hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. «Man konnte Eritreer*innen gegenüber ein Grundressentiment schüren. Mit der Thematik der Eritreer*innen kann das rechte Wähler*innensegment empört, alarmiert und aktiviert gehalten werden.»
Auf unsere Frage nach der Bedeutung der Religion in der Diaspora gesteht Andi Geu ein, dass er die Bedeutung der religiösen Zugehörigkeit und Verwurzelung der Eritreer*innen lange unterschätzt habe. Gemeinsam stellen wir fest, wie wenig wir auch diesbezüglich wissen und dass auch in diesem Bereich grössere Felder des möglichen Zusammenfindens zwischen Zugewanderten und Einheimischen brachliegen. Für einmal anders ist es in einem Gottesdienst zur Ökumenischen Kampagne in der Fastenzeit, den wir in der reformierten Kirche in Spiegel bei Bern besuchen. Pfarrer Berhanu Chernet leitet unter diesem Dach seit 25 Jahren die Gottesdienste einer evangelischen äthiopisch-eritreischen Gemeinde. Er nimmt in seiner Predigt kein Blatt vor den Mund: Die Länder des Nordens würden sich im Süden nicht nur Ressourcen für ihren eigenen Verbrauch sichern, sie griffen unersättlich nach der Kontrolle über alle Rohstoffe. An normalen Sonntagen trifft sich ein eher kleines Häufchen zum schweizerischen Gottesdienst in der Kirche, während die äthiopischen und eritreischen Familien das Kirchgemeindehaus nebenan in Schwingung versetzen. Wir erleben das bei der Kaffeezeremonie, zu der an diesem Tag alle eingeladen sind. Der Kaffee wird im Kirchenraum auf einem Öfchen geröstet, gebrüht und ausgeschenkt.
«Die Politik bleibt draussen, wenn wir Gottesdienst feiern.» Diesen Satz von Pfarrer Berhanu Chernet formulieren verschiedene Menschen mit eritreischem Hintergrund in Gesprächen mit uns ganz ähnlich. Sie meinen damit, dass die Haltung zum eritreischen Regime in den Gottesdiensten nicht thematisiert wird. In Berhanu Chernets Gemeinde finden sich viele Menschen, die vor langer Zeit aus Ostafrika in die Schweiz kamen. Die kirchliche Gemeinde bot ihnen von Anfang an Halt und vertraute Tradition. Aber in die Konflikte in ihren Herkunftsländern sind sie unterschiedlich verwickelt. Andere Gesprächspartner*innen sprechen davon, dass Pfarrer in gewissen eritreischen Gemeinden in der Schweiz – seien es evangelische, katholische oder orthodoxe – gutmeinenden Gläubigen Spendengelder aus der Tasche ziehen würden, die in Regierungskanäle flössen. Es gebe allerdings, gerade auch in der katholischen Kirche, Priester, die aus ihrer regimekritischen Haltung kein Geheimnis machten. In den Strukturen der eritreisch-orthodoxen Kirche dürfte das Regime am ehesten Einfluss zu nehmen versuchen.
Samson Yemane besucht keine Gottesdienste. Er suchte die Verbindung mit Landsleuten immer ausserhalb religiöser Strukturen. «Zuerst waren wir als junge Erwachsene in Bezug auf die Situation in Eritrea nicht laut, wir waren damals wenige und mussten unseren Platz hier finden. Wir kümmerten uns um die neu Ankommenden, wir tun dies in Lausanne bis heute in einem Verein, der den Geflüchteten hilft, die beträchtlichen bürokratischen Hürden in der Schweiz zu überwinden, im Asylverfahren, aber zum Beispiel auch bei der Steuererklärung oder bei Versicherungsfragen. Immer mehr trauten wir uns selber, zur Situation in Eritrea zu sprechen, gründeten politische Organisationen, wir waren oft im UNO-Menschenrechtsrat in Genf.»
Bereitwillig antwortet Samson Yemane auf unsere Frage nach seiner Politisierung in der Schweiz. Schon früh wollte er sich nicht nur für das Thema Eritrea zuständig fühlen: «Es gibt die Tendenz, die Geflüchteten für ihre Situation verantwortlich zu machen. Aber es geht um die Verantwortung des Nordens gegenüber dem Globalen Süden.» Er versuchte früh zu verstehen, was in den Programmen der politischen Parteien stand. Vieles, zum Beispiel Ökologie, war weit weg von seinen Realitäten. An der Universität traf er auf kritische, linke Menschen. «Mich interessierte Widerständigkeit gegen Herrschaftsverhältnisse. Denn ich war als Ausländer, als Schwarze Person, als prekäre, arme Person, als Geflüchteter auf der nichtprivilegierten Seite. Ich habe Lektüre gesucht, die mir weiterhalf, Albert Camus, Michel Foucault. Ich hatte dann auch das Glück, den Soziologien und SP-Nationalrat Jean Ziegler kennenzulernen. Ich realisierte, dass wir in der schweizerischen Konsensdemokratie innerhalb des Systems etwas erreichen mussten. So kam ich zur SP, auch wenn ich oft eher links von ihr stehe.» Samson Yemane scheint sich heute in Gesellschaft und Politik wie ein Fisch im Wasser zu bewegen, eloquent und kompetent.
Eloquent und zugänglich begegnet uns auch Hans-Ulrich Stauffer. Soeben zurück von einem seiner zahlreichen Aufenthalte in Afrika, spricht er mit uns am Telefon aus dem Feriendomizil in den verschneiten Schweizer Bergen. Stauffer ist Anwalt und war Gründer und Geschäftsführer der nachhaltigen Pensionskasse Abendrot. Mit Äthiopien und Eritrea befasst er sich seit 1973, als er in Basel zusammen mit anderen das Afrika-Komitee gründete. Er lernte die eritreische Befreiungsbewegung auf seinen Reisen auch von innen kennen. Jene Zeit hat ihn geprägt. Eritrea lag nach dem Ende des Befreiungskriegs von der äthiopischen Herrschaft wirtschaftlich, organisatorisch und politisch völlig am Boden. In den letzten dreissig Jahren, so beobachtete Stauffer, ging bezüglich Infrastruktur einiges: Die Entwicklung von Strassen und Verkehrssystemen sowie die Elektrifizierung, den Betrieb von Spitälern und Ambulatorien, von Schulen und der Wasserversorgung sowie die Senkung der Kindersterblichkeit hält er der Regierung zugute.
Angesichts der Tatsache, dass das Land von sehr fragilen Staaten umgeben und vom Westen marginalisiert sei, erachte er auch die Aufrechterhaltung von Stabilität, wie er die Situation bezeichnet, und die Integration verschiedener Religionen und Ethnien in Eritrea als positiv. Auch die schamlose Bereicherung durch eine kleine Elite, wie er sie in vielen anderen Staaten beobachtet, sieht er in Eritrea nicht. Bei viel historischer Rechtfertigung des eritreischen Regimes spricht er auch von dessen «hässlichen Seiten»: Die massiven Verletzungen klassischer Menschenrechte seien ein Horror. Es gebe keine öffentliche Diskussion, keine demokratische Mitsprache, auch gar kein Parlament – das sei kein zukunftsträchtiges Modell. Den Nationaldienst sieht Stauffer als eine sehr zwiespältige Angelegenheit. Er erkennt darin eine positive Grundidee und da und dort auch sinnvolle Umsetzungen. Aber die willkürliche, offene Zeitdauer und die Tatsache, dass Menschen im Dienst teilweise irgendwohin «verfrachtet» würden, findet er unakzeptabel. Dass Menschen dem brutalen Militärdienst entfliehen wollten, sei deshalb verständlich. Die Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren so viele Eritreer*innen in die Schweiz kamen, sieht er aber doch eher als Teil einer grossen ökonomisch bedingten «Völkerwanderung».
Interessant ist, dass Hans-Ulrich Stauffer um 1970 auch durch christliche Jugendarbeit und fortschrittliche Pfarrpersonen politisiert wurde. Das Interesse an emanzipatorischen Bewegungen verdanke er nicht zuletzt der Befreiungstheologie, der Pädagogik der Befreiung von Paulo Freire und den Aktivitäten des Ökumenischen Rates der Kirchen, von wo aus er den Weg zu afrikanischen Befreiungsbewegungen fand.
Ein völlig anderes Land als dasjenige, das Hans-Ulrich Stauffer bereist, scheint Yahya G. zu beschreiben, wenn er von seinem Herkunftsland Eritrea spricht. Wir treffen Yahya, der zum muslimischen Teil der eritreischen Community gehört, in einem Gemeinschaftszentrum in Bern während des Ramadans beim Fastenbrechen. Den Anlass mit Bewohnenden des Rückkehrzentrums Bern-Brünnen haben der dort tätige muslimische Seelsorger Rubin Gjeci und der reformierte Pfarrer Christian Walti gemeinsam organisiert. Yahya lebt seit kurzem im unterirdischen Zivilschutzbunker, wo er mit «Nothilfe» von zehn Franken pro Tag überleben muss. Begleitung und Beratung gibt es praktisch nicht. Eine Ausnahme ist die muslimische Seelsorge, die über die reformierte Landeskirche finanziert wird. Eine Mehrheit der Menschen im Rückkehrzentrum seien in einem sehr schlechten psychischen Gesundheitszustand, sagt Gjeci.
Yahya erzählt uns beim Essen, dass er vor dem eritreischen Nationaldienst geflüchtet ist. An diesen habe er seine beiden älteren Brüder verloren, von denen er seit zwei Jahren nichts mehr gehört hat. Ihrem Schicksal, einem Leben unter totalem staatlichem Zwang, wollte er entfliehen. Aber die Trennung von seiner Mutter ist hart. Sie lebt auf dem Land, hat kein Internet, er hat keinen Kontakt mit ihr. Das Dorf, in dem er einst jeweils nach der Schule auf dem elterlichen Hof mithalf, fehlt ihm. Er floh als 19-Jähriger über die Grenze, wo er nur knapp der Armee entkam – zwei Mitfliehende wurden verhaftet und ins Gefängnis geworfen –, nach Äthiopien und von dort in den Sudan und nach Ägypten, wo er sich drei Jahre lang durchschlug. Später schaffte er es via Libyen, wo das Leben zum Horror wurde, und über das Mittelmeer nach Europa. «Das Leben ist Scheisse», sagt der junge, schüchterne Mann auf Arabisch. Sein Asylgesuch wurde abgelehnt. Arbeiten darf er nicht. Die Chance ist trotzdem gross, dass er in der Schweiz bleibt und einst zum eritreischen Gesicht dieses Landes gehören wird. Welche anderen Möglichkeiten hat er?●
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*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.