«Der Politik, die mit der Angst arbeitet, entgegentreten.» Neue Wege-Gespräch mit Jacqueline Fehr

Matthias Hui, Kurt Seifert, 1. Januar 2017
Neue Wege 1/2017

Die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr plädiert dafür, auch die islamischen Gemeinschaften einzuladen, an der Gestaltung unserer Gesellschaft mitzuwirken. Mit ihrem Vorschlag hat sie eine kontroverse Debatte ausgelöst. Ein Gespräch über Religionen und ihre staatliche Anerkennung.

Es gibt eine parallele Entwicklung zwischen der Anerkennung der katholischen Kirche in den 1960er Jahren und einer möglichen Anerkennung muslimischer Gemeinden in Zukunft. Sie haben diese Entwicklung in Ihrer letztjährigen Zürcher Bettagsrede im Grossmünster so skizziert: Für die MigrantInnen aus dem katholischen Süden Europas war die Kirche zu jener Zeit ein «Ankunftsort», ein Ort, an dem sie «als Menschen mit Biografien, mit Träumen, mit Hoffnungen» wahrgenommen wurden. Ähnliches sehen Sie heute bei MigrantInnen aus der islamisch geprägten Welt, die ebenfalls «Brücken zwischen Herkunft und Ankunft» benötigen. Was antworten Sie jenen, die erklären, das lasse sich nicht vergleichen: Die einen seien Teil des «christlichen Abendlandes» und deshalb auch mehr oder weniger gut integrierbar gewesen, die Kultur und Religion der MuslimInnen bleibe aber ein Fremdkörper in unserer Gesellschaft?

Das ist zu kurzfristig gedacht. In einer längeren Perspektive sehen wir, dass das, was wir gegenwärtig wahrnehmen, nicht das Ende der Geschichte sein kann. Der islamische Raum war der christlichen Welt über ein paar Jahrhunderte hinweg weit voraus: wissenschaftlich, kulturell, gesellschaftlich gesehen. Das hat sich später verändert, was aber nicht heissen muss, dass die muslimisch geprägten Gesellschaften in ihrer Entwicklung einfach zurückbleiben. Die Verwandtschaften zwischen den drei grossen Weltreligionen sind sehr viel enger, als wir das aufgrund heutiger Auseinandersetzungen begreifen. Der Koran und die Bibel sind einander viel näher, als uns oft bewusst ist.

Konkret?

Ich habe in Schweden erlebt, wie ein Schulleiter einer multikulturellen Schule gefragt wurde: «Wie schafft ihr es in diesem Land der Gleichberechtigung, islamische Eltern anzusprechen?» Er sagte:  «Wir nehmen Bezug auf Abraham, den Vater des Judentums, des Christentums und des Islam, dann wird die Verbundenheit sichtbar.» Ich bestreite, dass der Islam in Bezug auf sein kulturelles Potenzial einen Fremdkörper darstellt. Das ist anders, wenn man die politische Interpretation des Islam in gewissen Weltregionen in Betracht zieht. Aber wir hatten in nicht allzu ferner Vergangenheit auch unakzeptable politische Interpretationen des Christentums oder der «deutschen Kultur» und betrachten diese Traditionen dennoch nicht als grundsätzlich unvereinbar mit einer demokratischen Gesellschaft.

In Ihrer Grossmünster-Rede haben Sie davon gesprochen, dass es möglich sein müsse, «einen Islam nach schweizerischer Façon» zu schaffen. Sie haben auch formuliert: Es gehe um «muslimische Gemeinschaften mit starker Schweizer Prägung». Was verstehen Sie darunter?

Bei der Anerkennungsfrage geht es um jene, die sich selber als religiös empfindende Menschen verstehen – das ist auch unter den MuslimInnen eine Minderheit – und die mit uns zusammen hier in einem guten Einvernehmen leben wollen. Aber die MuslimInnen sind nicht per se eine Wertegemeinschaft; das gleiche gilt für uns Nicht-MuslimInnen. Die einen sind beispielsweise urban-progressiv, und andere haben ländlich-traditionelle Werte. MuslimIn sein ist nicht die einzige Identität dieser Menschen. Es geht darum, jenen den Rücken zu stärken, die den Staat als Rechtsordnung verstehen und die Gesellschaft als ein Zusammenspiel verschiedener Wertegemeinschaften, und die gemeinsam mit uns dieses Verständnis in ihren Gemeinschaften vorantreiben wollen. Diese Perspektive aufzuzeigen, ist das Hauptziel der Anerkennungsdiskussion.

Sie vertreten die Position, dass nur Gemeinschaften, die Respekt und Wertschätzung erhalten, auch eine integrierende Wirkung entwickeln können. Gibt es nicht innerhalb des Islam jene, die eine solche Integrationswirkung gar nicht anstreben, sondern im Gegenteil die Mehrheitsgesellschaft unterwandern wollen?

Natürlich gibt es Kräfte innerhalb der islamischen Gemeinschaft, die diese Integration nicht wollen. Es gibt auch Kräfte innerhalb der katholischen Kirche, welche die Modernität ablehnen. Es gibt Kräfte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die Parallelgesellschaften bilden. Es gibt Evangelikale, die sich absondern. Es gibt Rechtsradikale, es gibt Linksradikale, AnarchistInnen, die diese Gesellschaft so nicht wollen. Das ist eine klassische politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung mit allen diesen Gruppen, die wir führen wollen.

Muss der Staat nicht in erster Linie die Grenzen des Dialogs aufzeigen?

Durch Ausgrenzung schaffen wir mit Sicherheit keinen Beitrag zum sozialen Frieden. Jenen den Rücken zu stärken, die wie wir das Gemeinsame betonen wollen, sie nicht in die Hinterhöfe zu verdrängen, sie nicht pauschal zu verurteilen – das sind Methoden, mit denen wir den sozialen Frieden stärken möchten. Wir wollen Menschen nicht zu Rechtfertigungen zwingen für etwas, wofür sie sich nicht rechtfertigen müssen. Genauso wenig, wie irgendein Muslim oder irgendeine Muslimin dafür verantwortlich ist, dass ein islamistischer Extremist ein Attentat begeht, genauso wenig verlangen wir doch von den KatholikInnen, dass sie sich rechtfertigen, wenn ein katholischer Priester ein Kind missbraucht! Ich warne sehr davor, die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft als das dominante Identitätsmerkmal zu begreifen. Für die grosse Mehrheit ist es dies nicht. Viele MuslimInnen haben erst über die Diskussion der letzten Jahre realisiert, welche Bedeutung Religion haben kann. Sie lebten mit einem anderen Gefühl, wie wir auch: Ich bin viel stärker eine Linke oder eine Frau oder eine Städterin oder eine Pädagogin, als dass ich Mitglied einer christlichen Gesellschaft bin. Die Überbetonung des einen, religiösen Segments der eigenen Identität schafft ein Problem, wo keines ist.

Es gibt KritikerInnen, die das System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften als ein Relikt der Vergangenheit betrachten. Es sei kein zukunftsfähiges Modell. Wie antworten Sie auf diesen Einwand?

Als intellektuelle Position kann ich das nachvollziehen. Analytische Überlegungen können einen zur Auffassung bringen, die Trennung zwischen Kirche und Staat müsse noch weiter gehen, der Staat müsse sich noch stärker als Rechtsordnung verstehen und dürfe – säkular-laizistisch betrachtet – mit dem ganzen religiösen Wertebereich nichts zu tun haben. Im praktischen Leben ist die Verwobenheit der Kirchen mit der Gesellschaft aber so gross und sind die gesellschaftlichen Leistungen der reformierten Kirche, der katholischen Kirche, aber auch der islamischen Vereine, der jüdischen Gemeinschaften und anderer so bedeutungsvoll, so dass ich nicht glaube, diese Trennungsidee könnte bei uns in absehbarer Zeit an Fahrt gewinnen. Im Gegenteil: Es gibt ein stärkeres Bewusstsein und eine grössere Wertschätzung der Leistungen religiöser Gemeinschaften in der Gesellschaft. Der Staat sieht deutlicher, wie sehr er auf ihre Flüchtlingshilfe, auf ihre Alters- und ihre Jugendarbeit, auf ihr Engagement in ganz verschiedenen Bereichen der gesellschaftlichen Integration angewiesen ist.

Nun konkreter zu einem möglichen Prozess staatlicher Anerkennung muslimischer Gemeinden: Es fehle diesen Gemeinden ein Ansprechpartner für den Staat, argumentiert etwa Michael Meier im Tages-Anzeiger. Eine Anerkennung einzelner integrationswilliger Gemeinschaften, also ein Prozess peu à peu, sei kaum machbar und politisch sowieso nicht durchsetzbar.

Wir müssen uns bewusst sein, was wir tun. Wir anerkennen keine Religion, wir anerkennen keine Verbindung zur Türkei oder zum Vatikan, wir anerkennen keine Personen. Wir anerkennen ein Institut, in der Regel einen Verein. Er hat hier seinen Sitz, er hat seine Statuten, um dem hiesigen Recht zu genügen. Wir konnten die katholische Kirche erst anerkennen, als sie im Kanton Zürich eine Körperschaft nach unseren Rechtsgrundsätzen gründete. Sie haben wir anerkannt, nicht den Vatikan und auch nicht ein Bistum. Wir könnten uns vorstellen, dass es muslimische Vereine gibt, die diese Bedingungen erfüllen: Gleichstellung der Geschlechter, Anerkennung der Rechtsordnung, Offenlegung der Finanzströme. Es geht nicht um die theologische Interpretation. Die schauen wir auch bei den Kirchen nicht an, da ist der Staat neutral. Ich kann mir vorstellen, dass gerade aus dieser Emanzipationsbewegung neue Formen muslimischer Vereine entstehen, bei denen beispielsweise Frauen eine ganz andere Rolle spielen, wie dies immer mehr Musliminnen auch fordern, und in denen auch viel offenere Deutungen des Koran entwickelt werden. Damit würde ein Zeichen gesetzt, dass eben der Islam in einer schweizerischen Interpretation möglich ist. Die christliche Kirche im Sudan ist nicht dieselbe wie in Zürich; genauso wenig kann der Islam in Saudiarabien der gleiche sein wie hier.

Es gibt Zweifel, dass sich solche Strukturen herausbilden würden. Wenn das Forum für einen fortschrittlichen Islam einen Antrag auf Anerkennung stellen würde, gäbe es wahrscheinlich innerhalb der islamischen Gemeinschaft grosse Diskussionen, ob damit tatsächlich der Islam repräsentiert würde.

Auch in den jüdischen Gemeinschaften sind nicht alle davon überzeugt, dass die beiden in Zürich anerkannten Gemeinschaften das Judentum an sich repräsentieren. Das ist gar nicht die Frage. Wir haben auch längst nicht alle Kirchen anerkannt. Es gibt keinen Grund, die islamischen Gemeinschaften zu drängen. Wir müssen sie nicht anerkennen. Wir schaffen eine Perspektive, eine Einladung. Die islamischen Gemeinschaften sollen sich überlegen, ob sie zum Ausdruck bringen wollen: «Wir sind bereit, diese Bedingungen zu übernehmen, weil wir überzeugt sind, dass es die richtigen sind, welche unserer Religionsgemeinschaft eine Entwicklung ermöglichen. Wir setzen uns damit aber auch intern der Kritik aus und stellen uns der Diskussion.» Natürlich exponiert man sich. MuslimInnen dürfen sich nicht in einer Opferrolle einnisten. Wir organisieren ihnen die Anerkennung nicht, sie müssen sie sich selber erarbeiten; die Bedingungen sind zwar nirgends formell festgelegt, aber in den Grundzügen bekannt.

Die Bereitschaft des Staates, in diese Richtung zu gehen, haben Sie in den letzten Monaten deutlich formuliert. Welche Schritte sind nun notwendig, um der Diskussion über eine mögliche staatliche Anerkennung muslimischer Gemeinden mehr Gewicht zu geben? Diese Gemeinschaften sind ja gerade im Kanton Zürich momentan in einer eher schwierigen Situation, sie sind – im Zusammenhang mit dem Thema der Anwerbung von IS-KämpferInnen – deutlich in der Defensive.

Im Kontext islamistischer Gewalt benötigen wir – angelehnt an die Drogenpolitik – eine Drei-Säulen-Politik: Wir brauchen Prävention. Auf kommunaler Ebene benötigen wir die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Moscheevereinen, Polizei, Jugendarbeit, Schule und anderen. Zweitens gibt es die repressiven Instrumente: Wir haben das Strafrecht, das Ausländergesetz und das Arbeitsgesetz, wenn es um Bewilligungen für Imame geht, wir haben den Staatsschutz. Und drittens haben wir das, was in der Drogenpolitik die Therapie ist: Das ist die Aufgabe der Deradikalisierung. Jugendliche oder junge Erwachsene, die «drin» oder fast drin sind, müssen rausgeholt werden.

Das klingt nun allerdings eher abstrakt und technokratisch. Wie wird in Ihrer Direktion eine solche Strategie fassbar?

Wir formulieren zum Beispiel ein Konzept für die Nofallseelsorge und die Seelsorge im Gefängnis. Wir erarbeiten Kriterien, welche Anforderungen SeelsorgerInnen aus allen Religionen und Konfessionen erfüllen müssen. Muslimische Gemeinschaften sind da selbstverständlich mit dabei. Damit entsteht verbindliche Zusammenarbeit. Man rückt zueinander, wenn von einem Pfarrer dieselbe Qualifizierung gefordert ist wie von einem Imam. Über diese Schiene bilden sich Strukturen heraus innerhalb der muslimischen Gemeinschaften, die dann auch beim Thema Anerkennung von Bedeutung sein können.  Wir müssen an konkreten Problemen arbeiten und damit eine Entwicklung unterstützen, die zu dem führen kann, was wir anstreben.

Sie sind als Regierungsrätin vorgeprescht. Welche Initiativen erwarten Sie jetzt aus der Gesellschaft? Die Kirchen scheinen sich noch relativ bedeckt zu halten.

Die Kirchen sind im Moment mit eigenen Aufgaben sehr belastet, das gilt im Kanton Zürich insbesondere für die reformierte Kirche. Wir erhalten aber von verschiedener Seite her sehr grosse Unterstützung in dieser Anerkennungsfrage. Gerade die katholische Kirche ist bereit, ihre eigenen Erfahrungen auf dem Weg zur Anerkennung zur Verfügung zu stellen. Die KatholikInnen finden nicht, sie seien ein Spezialfall, Anerkennung funktioniere nur bei ihnen. Da ist eine grosse Offenheit, gerade weil auch sie sich damit befreit haben aus einer Vatikannähe. Genauso wollen sich ja viele MuslimInnen vom türkischen oder saudischen Einfluss befreien. Sie wären froh, nicht auf dieses Geld angewiesen zu sein und eigene Imame zu haben.

Die Kirchen reagieren also konstruktiv?

Sie schwanken und fragen sich: «Führt diese Diskussion zu einer Stärkung der Anerkennung von Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft? Profitieren wir auch als Kirchen davon, dass man uns wieder stärker wertschätzt und der Religion an sich wieder mehr Bedeutung zuschreibt? Oder stehen wir in einem Kulturkampf, in dem wir unsere christliche Welt verteidigen müssen?» Das ist eine grosse Ambivalenz. Der Weg ist lang. Aber der Weg nach der Reformation, als es darum ging, die katholische Kirche wieder zu akzeptieren, war auch lang, obwohl die Geschwisterschaft näher lag als hier. Für mich ist wichtig, dass wir uns immer wieder bewusst sind, wovon wir sprechen, wenn von den christlichen Werten die Rede ist: Wir sprechen im Wesentlichen von den Werten der Aufklärung. Sie sind aus der Geschichte Europas herausgewachsen und wurden vielleicht nicht gegen das Christentum, aber gegen die Kirche erkämpft. Gerade religiöse SozialistInnen wissen ja um die Bedeutung der Unterscheidung zwischen kirchlichen, christlichen und aufklärerischen Werten. Ich würde mir oft wünschen, es ginge der CVP wirklich um christliche Werte, dann hätte sie nämlich eine andere Ausländer- oder Flüchtlingspolitik.

Wenn Sie von der Drei-Säulen-Politik sprechen, wird deutlich, dass die Triebfeder des Handelns für den Regierungsrat im Kontext von Religion und Gewalt zu suchen ist. Sie selber stellen Religion aber in einen grösseren Zusammenhang. In Ihrer Rede zum Bettag sagten Sie, der Staat und die Religionsgemeinschaften müssten sich «gemeinsam der Angst entgegenstellen». Sie sprachen von der Angst vor Andersartigkeit und vor Gewalt. Sie sprachen auch vom Zwillingsbruder der Angst, dem Hass, der «im Kleid der Häme, der Verachtung, der Einschüchterung oder des Sexismus» daherkommt. Sie erklärten, wie Angst unkritisch und gefügig macht, auch um Sicherheitsbudgets auf- und Bildungs- sowie Sozialbudgets abzubauen. «Deshalb gibt es politische Kräfte, die wollen, dass wir Angst haben.»

Angst zu schüren, ist eine machtpolitische Absicht. Es gibt sie im staatlich-politischen Kontext wie auch im religiösen. Religionsgemeinschaften haben eine lange Tradition der Angstpolitik und der Interpretation der theologischen Lehren unter dem Aspekt der Angst. Den Menschen Angst machen, drohen, Disziplin einfordern unter Androhung von schweren Folgen – das sind Machtkonstruktionen, die beim Staat wie bei religiösen Gemeinschaften identisch sein können. Sie dienen immer der Stärkung der eigenen Macht und dem Gewinn von Dominanz, Privilegien, Reichtum, Insignien. Als politisch und als kirchlich tätige Menschen haben wir nun die gemeinsame Verantwortung, der Angstpolitik entgegen zu treten. Im kirchlich-religiösen Kontext aufgrund der Kernbotschaft von der Gleichheit der Menschen und vom Angenommensein ohne Vorbehalte, im politischen Kontext aufgrund der Gleichheit der Menschen, die zur Demokratie führt und zur Mitbestimmung.

Ihr Standpunkt kommt also von einer Machtkritik her. Interessant, dass eine Regierungsrätin die Machtfrage stellt.

Ja. Vielleicht sieht man Zusammenhänge noch besser, wenn man Teil des Systems ist.

In der aktuellen Debatte mit CVP-Präsident Gerhard Pfister meinte Christian Levrat, der Präsident Ihrer Partei, der Staat müsse die «richtige Distanz zu den Religionsgemeinschaften finden», das sei «gesunder Säkularismus». Levrat, selber Katholik, plädiert wie Sie für eine Erweiterung der Anerkennung von Religionsgemeinschaften: «Das ist gut für die Gesellschaft, weil ein solches System Platz für alle Religionen lässt. Es ist aber auch gut für die Religionen, die sich dadurch auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können – für das spirituelle Wohlbefinden ihrer Gläubigen zu sorgen.» Teilen Sie dieses Verständnis? Ist Religion Privatsache?

Aus unserer zürcherischen Erfahrung Kirche heraus sehe ich, dass die Kirche natürlich deutlich mehr leistet, sie übernimmt sehr viel gesellschaftliche Arbeit. Bei uns ist das sehr stark verwoben – ein Resultat politischer Entscheide. Im engeren Sinn teile ich die Position von Christian Levrat. Als Staat in seiner Rolle als Rechtsordnung gehen wir auch im Kanton Zürich den Weg in Richtung noch stärkerer Entflechtung. Wenn wir die aktuelle Revision des Kirchenrechts anschauen, übertragen wir den anerkannten Religionsgemeinschaften zum Beispiel noch mehr Entscheidungsbefugnisse über ihre Liegenschaften oder über ihre interne Organisationsform. Der Staat nimmt sich weiter zurück, was die innerkirchlichen Angelegenheiten betrifft. Aber auch Christian Levrat ist ja noch so froh, dass sich die Kirche in der Flüchtlingsarbeit engagiert, nicht nur konkret, sondern auch indem sie Position bezieht. Wir sollten nicht so tun, als ob wir diese Stimme nicht sehr gerne hören.

Bleiben wir noch einen Moment im Kanton Zürich: In der Kirchenordnung der Evangelisch-reformierten Landeskirche heisst es in Artikel 4: «Die Kirche lebt aus dem befreienden Zuspruch Gottes. Aus ihm leitet sie ihre Verantwortung in der Gesellschaft ab. Die Landeskirche nimmt das prophetische Wächteramt wahr. In der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium tritt sie ein für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung.» Hand aufs Herz: Die Zürcher Kirche ist zwar gesellschaftlich bedeutsam, aber doch relativ brav. Spürt man im Regierungsrat noch etwas von diesem prophetischen Wächteramt?

Ja, wenn auch sicher nicht immer flächendeckend. Vor einem Jahr, als die Diskussion rund um die Flüchtlingsaufnahme sehr virulent war, hatten die kirchlichen Stimmen grossen Einfluss auf die Politik, die erklärten: «Wir haben hier eine Aufgabe; wenn wir schon von christlichen Werten sprechen, ist uns Solidarität mit Geflüchteten aufgetragen.» Damit spannt die Kirche einen anderen Deutungsrahmen auf, es ist nicht mehr einfach eine Links-rechts-Debatte. Die Kirche ist eine zusätzliche Stimme in der Diskussion, die Gewicht hat. Das ist, wie wenn in einem anderen Feld die Wissenschaft zum Klimawandel ihre Stimme erhebt und zu einer politischen Akteurin wird.

Es gibt im Moment Kirchgemeinden, die Menschen in Not in ein Kirchenasyl aufnehmen – beispielsweise, weil sie eine Ausschaffung von Familien mit Kindern in ungewisse Situationen nicht verantworten können. Sie setzen sich bewusst in einen Widerspruch zu staatlicher Migrationspolitik. Beanspruchen diese Gläubigen, diese Kirchgemeinden aus Ihrer Sicht zu viel Legitimation zum Schutz bedrohter Grundrechte? Gefährdet dieser zivile Ungehorsam das gute Einvernehmen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften?

Hier spielt ein anarchisches Element mit. Als Justizministerin muss ich klar sagen: «Das darf nicht sein.» Wir müssen aber anerkennen, dass das, was eine Gesellschaft richtig findet und das, was rechtens ist, nicht in jedem Fall übereinstimmt und immer wieder neu justiert werden muss. Das müssen wir aushalten. Der Ruf nach Gesetzesänderungen und nach anderer Gewichtung bei Interessensgegensätzen ist Kern der demokratischen Auseinandersetzung.

Harmonisch geht das nicht vonstatten.

Das geht nicht ohne Reibung, nicht ohne Konflikt, nicht ohne Enttäuschung. Aber es braucht diesen Prozess, dass Grenzen ausgedehnt und immer wieder neu justiert werden. Als Justizministerin will ich deshalb differenzieren: Wenn wir in die Geschichte schauen, wird deutlich, dass viele Veränderungen, die wir aus heutiger Sicht als richtig erachten, ohne den zivilen Ungehorsam so nicht stattgefunden hätten. Die Feudalherren wären nicht gestürzt worden, wenn es nicht das Überschreiten damals gültiger rechtsstaatlicher Grenzen gegeben hätte. Paul Grüninger hätte nicht Flüchtlinge retten können, wenn es dieses Überschreiten nicht gegeben hätte. Der ganze Aufbruch von neuen Lebensformen nach 1968 wäre nicht möglich gewesen, wenn es diese anarchische Phase nicht gegeben hätte. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass sich auch Kräfte auf den zivilen Ungehorsam berufen könnten, die den Rechtsstaat an sich in Frage stellen. Über die lange Zeit gesehen, bestätigt es sich immer wieder: Der Rechtsstaat schützt die Schwachen. Er ist deshalb auf jeden Fall zu verteidigen.

Nach den Debatten um das neue SP-Parteiprogramm 2010, in dem verankert wurde, dass das Primat von Demokratie und Politik die Überwindung des Kapitalismus erfordert, haben Sie gesagt: «Wenn wir den Traum einer anderen Gesellschaft aufgeben und nicht mehr daran glauben, dass wir noch nicht am Ende der Geschichte angelangt sind, dann verletzen wir unsere Wurzeln. Die Geschichte lehrt uns, dass immer wieder möglich wurde, was lange Zeit für unmöglich gehalten wurde.» Sie reden von «träumen» und «glauben» – eine Sprache mit Verbindungen zum Religiösen. Im Bekenntnis von Accra sagt die Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen Nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung des neoliberalen Kapitalismus. Auch Papst Franziskus wendet sich sehr deutlich gegen ein System von Profitmaximierung und zerstörerischer Finanzwirtschaft. Sind nicht gerade die Kirchen, vielleicht auch andere religiöse Gemeinschaften hier mögliche Verbündete?

Sie sind wichtige Verbündete. Sie sind wichtige Stimmen, weil sie die Kritik aus einer spirituellen Position heraus formulieren. Papst Franziskus ist nicht wie sein Vorgänger in akademischen Zirkeln geprägt worden, sondern in Armenvierteln in Argentinien. Es gibt ja ganz viele TheologInnen, ich nenne nur mal die Beiträge im «Wort zum Sonntag», die diese Diskrepanz der Realität zu den Geschichten, den Aufträgen, den Verkündigungen in der Bibel oder in anderen religiösen Büchern aufzeigen. Es ist die Aufgabe der Kirche, diese Diskrepanz zu benennen, insbesondere gegenüber den eigenen Gläubigen. Damit wird die Position dann auch zu einer öffentlichen. Ich kenne das Innenleben der Kirchen nicht genau. Ich stelle einfach fest, was aber sicher unpräzise ist, dass es einerseits viele Menschen gibt, die nicht so häufig in die Kirche gehen, gläubige, kirchennahe Menschen, die sich diesen Prinzipien sehr verpflichtet fühlen – und andererseits Menschen, die in die Kirche gehen und weniger Mühe haben mit dem Wechsel zwischen dem, was sie in der Kirche tun, und dem Leben, das sie draussen führen. Es ist die Kernaufgabe der Kirche, sich dieser Diskussion zu stellen. Die ganze grüne, ökologische Politik zur Bewahrung der Schöpfung und die ganze Politik rund um Reichtum, Neoliberalismus, Umverteilung sind zentrale Themen, die in den Grundwerten der Religionen thematisiert sind.

Jacqueline Fehr, *1963, war von 1998 bis 2015 SP-Nationalrätin. Im April 2015 wurde sie in den Regierungsrat des Kantons Zürich gewählt und leitet dort die Direktion der Justiz und des Innern. In diesem Amt ist sie auch für die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zuständig. In einer Rede im Zürcher Grossmünster zum Eidgenössischen Buss- und Bettag am 18.9.2016 und in verschiedenen Medienbeiträgen hat sie sich dafür ausgesprochen, auf eine staatliche Anerkennung muslimischer Gemeinschaften hinzuarbeiten.

www.jacqueline-fehr.ch

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.

  • Kurt Seifert,

    *1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.