Wo erleben Sie Zugehörigkeit, ein kollektives «Wir», Mandy Abou Shoak?
Mandy Abou Shoak Ich habe eine hybride Identität. Ich bin eine Frau, ich bin eine Schwarze Frau, ich bin eine Schwarze muslimische Frau mit einer Aufsteigerinnengeschichte. Ich bin Sozialarbeiterin und Menschenrechtlerin. Ich bin Soziokulturelle Animatorin, dabei interessieren mich die Voraussetzungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und dann bewege ich mich auch in prekären Arbeitsfeldern wie Asyl, Flucht und Gewalt, Feldern an den Rändern unserer Gesellschaft. Gleichzeitig bin ich Sudanesin. Ich weiss, was es bedeutet, wenn Krieg und Flucht in die eigene Biografie eingeschrieben sind. Die sudanesische Community in der Schweiz ist sehr divers. Einige leben in Asylunterkünften, andere sind seit vierzig Jahren hier und sehr etabliert. In dieser Heterogenität fühle ich mich der Community sehr verbunden und zugehörig. In dieser Stadt, in Zürich, und in diesem Land geschieht so vieles gleichzeitig. Das ist auch meine persönliche Realität. Das macht mich und mein Leben aus. Das in Worte zu fassen, ist schwierig. Man muss es erleben. Leute verstehen erst, was ich meine, wenn ich sie an eine muslimische ’Id-Feier mitnehme. Oder wenn sie mich an eine Veranstaltung zum Thema Asyl und Flucht begleiten. Wenn sie an eine Lesung unseres Schwarzfeministischen Netzwerks mitkommen. Das sind komplett unterschiedliche Welten mit unterschiedlichen Prämissen und Regeln. Was uns Migrant*innen in dieser Gesellschaft ausmacht, ist dieses Code-Switching: Wir sind an unterschiedlichsten Orten beheimatet und beherrschen die jeweiligen Sprachen und Regeln aus dem Effeff.
Wo fühlen Sie sich zu Hause, Samir?
Samir Ich fühle mich hier in Zürich nicht wohl. Also, jetzt mit euch natürlich schon. Wohl fühlte ich mich immer als Teil von Bewegungen, die Dinge verändern wollten. In den 1970er Jahren hatte ich keine Chance, mich unter arabischen Menschen wohlzufühlen, weil es sie einfach nicht gab. Aber ich fühlte mich bald bei den Italienern wohl, übrigens nicht weit von hier, im Ristorante Cooperativo. Das war eine kleine, aber eine ganze Welt. Die Nachbarschaft hier im Kreis 4 war völlig anders als heute. Da gab es zwischen uns deckungsgleiche Ideen, das Gemeinschaftliche, das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Veränderung – im Gegensatz zum Individualismus des Schweizerischen. Und dann kam eine zweite Welle, wo ich mich wohlfühlte. Die sogenannte Jugendbewegung 1980/81 und der ganzen 1980er Jahre war die absolute Negation von allem, was die bürgerliche Gesellschaft ausmachte. Wir veränderten viele Dinge, manches existiert bis heute. Diese Zeit überschnitt sich mit der zweiten Generation von Migrant*innen, also den Kindern der mediterranen Arbeitsmigrant*innen, die hier aufgewachsen waren. Den sogenannten Secondos und Secondas. Und dann kamen auch die ersten geflüchteten Menschen seit Langem: die ersten Tamil*innen, Kurd*innen, Menschen, die aus dem Krieg im Balkan flüchteten. In den letzten dreissig, vierzig Jahren hat sich diese Stadt nun so massiv verändert und globalisiert, dass ich mich nur noch unter einzelnen Menschen oder in einzelnen Gruppen wohlfühle. Ich habe keinen Ort mehr. Seit dem Entstehen einer neuen migrantischen Community in den letzten Jahren, unter anderem mit der Gründung von INES, dem Institut Neue Schweiz, und jetzt mit der Einreichung der Demokratie-Initiative, fühle ich mich in einer überregionalen Vernetzung wohl. Aber Räume in der Stadt, in denen ich mich wohlfühlen würde, gibt es eigentlich nicht mehr.
Und an welchem Ort sind Sie emotional beheimatet, Sibel Arslan? Wo erleben Sie Verbundenheit?
Sibel Arslan Ich fühle mich am und im Rhein beheimatet. Das kollektive Rheinschwimmen mit unserem Rhyfisch finde ich toll. Im Rhein erlebe ich eine Art von Sicherheit, der Fluss bietet Schutz, man kann einfach alles loslassen. Als ich begann, ausserhalb von Basel zu arbeiten, und später in den Nationalrat gewählt wurde, kam ich immer wieder sehr gerne nach Basel zurück. Beim Einfahren in den Bahnhof wurde mir jedes Mal aufs Neue bewusst, wie wichtig mir dieser Ort ist.
Ich selbst habe viele Veränderungen durchlebt. Es ist ein spannender, aber auch schmerzhafter Weg: zuerst selber immigrieren, sich einleben, einen Ort in migrantischen Kreisen finden, in Frauenzusammenhängen, in linken Gruppen und Parteien, im Studium und später in parlamentarischen Gremien. Auch ich bin konfrontiert mit dieser Multi-Identität, die ihr beide beschrieben habt. Nicht für alle Orte, an denen wir sind, haben wir uns frei entschieden. Wirklich wohl fühle ich mich dort, wo ich mit Menschen zusammen bin, mit denen ich ähnliche Werte teile und gute Gespräche führen kann. Das sind meist langjährige Freund*innen von mir, die untereinander sehr divers sind. Egal, wohin wir gehen, wir nehmen uns selbst mit. Ich will mich immer wieder bewusst für Orte entscheiden, an denen ich mich wohlfühlen kann.
Samir, was macht für Sie die Qualität des angesprochenen Netzwerks migrantischer Menschen aus?
S Wir teilen untereinander die Wahrnehmung, die sich während meines Lebens ständig verschärft hat – erst recht seit dem 7. Oktober 2023: Diese Gesellschaft ist absolut eurozentristisch und denkt in der Vorstellung einer weissen Vorherrschaft. Je älter ich werde, umso mehr fällt mir auf, wie tief diese Gesellschaft geprägt ist durch ihre Geschichte des Kolonialismus und der Unterjochung aller südlichen Kontinente, basierend auf der Ideologie einer Suprematie der eigenen Kultur. Je mehr ich aus Europa herauskomme, umso deutlicher nehme ich diesen verengten Blick auf eine angeblich bessere Zivilisation wahr und erschrecke über das verbreitete Nichtwissenwollen, die Ignoranz bei uns – auch in weiten Teilen meiner eigenen, linken Szene, in der ich mich in verschiedenen Phasen einst wohlgefühlt hatte. Ich merke, dass diese Leute ihr Privileg gar nicht verstehen. Ich kann in Zürich auch in den Fluss springen – wir haben die schöne Limmat, Sibel –, doch dann schwimmst du an Expats vorbei und jungen Menschen, die Englisch und Hochdeutsch sprechen und sich super wohlfühlen, aber wir existieren eigentlich nicht für sie.
Sie, Mandy Abou Shoak, wollen Zürich verändern, zum Beispiel seit 2023 im Kantonsrat.
MAS Ich habe viel Glück gehabt und konnte Wege gehen, die vielen anderen verschlossen bleiben. Eine politische Ochsentour durch Partei und Institutionen können sich nur wenige leisten – allein der Einstieg erfordert Kontakte. Danach braucht es Zeit, Geld und weitere Ressourcen.
Und doch bin ich hier, wie viele andere auch, um politische Grenzen zu verschieben, um die Lebensbedingungen für vulnerable und ausgegrenzte Menschen zu verbessern, und um andere zu ermutigen, ihren eigenen Beitrag zu leisten. Menschen wie ich sind nicht angetreten, um Strukturen aufrechtzuerhalten, die gar nicht für uns gemacht sind.
Was es jetzt braucht – gerade angesichts des rechten Backlash – ist Mut zur Öffnung. Es geht darum, neue Verbindungen zu schaffen. Und es geht auch darum, das Vertrauen jener zurückzugewinnen, die sich nicht mehr von linker Politik angesprochen fühlen.
Deshalb haben Sie im Sommer 2025 SP-intern für das Stadtpräsidium kandidiert. Das mobilisierte sehr viele migrantische Menschen. Aber die Delegierten haben Sie nicht gewählt. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
MAS Es gibt einen unglaublich grossen Bevölkerungsteil in dieser Stadt, der jung und migrantisch ist und der Lust hat, teilzunehmen, teilzuhaben und Teil zu sein. Es sind Menschen, die gehört, gesehen und einbezogen werden möchten. In der kurzen Zeit, in der so viele Menschen auf unterschiedlichen Ebenen an diesem internen Wahlkampf beteiligt waren, konnten wir einen Funken zünden. Das ist grossartig. Wir müssen uns jetzt überlegen, welches Angebot wir ihnen machen. Wir müssen gemeinsam einen Weg finden und verhandeln. Und ja, das ist manchmal beschwerlich. Sich zu öffnen, bereitet manchmal Schmerzen: Wachstumsschmerzen. Es braucht auf allen Seiten vieles, damit es gelingt. Aber so oder so: Es führt kein Weg daran vorbei.
Im Moment bin ich schon sehr enttäuscht: Ich spüre, dass in meiner politischen Wahlheimat, der SP, die postmigrantische Realität noch nicht angekommen ist. Ich mache mir ernsthafte Sorgen, dass wir den Anschluss an junge migrantische Menschen verlieren. Ihre Lebensrealitäten sind oft nur wenige Strassen entfernt – und doch liegen Welten dazwischen. Ausserdem sind sie mittel- und langfristig entscheidend für die linke Wähler*innenschaft.
S Wir können nicht warten, bis wir einbezogen werden. Wir müssen uns den Raum selber nehmen. Die migrantischen Menschen – die Hälfte der Einwohner*innen der Stadt Zürich, vierzig Prozent der Bewohner*innen der Schweiz haben eine migrantische Herkunft – können umgekehrt der Gesellschaft das Angebot machen, mit ihnen zu gehen. Ich meine diejenigen, die entschlossen sind, hierzubleiben, also nicht die Expats der Banken und globalen IT-Unternehmen, die sowieso kommen und gehen, wie sie wollen. So kann es zu Allianzen zwischen den migrantischen Menschen und den progressiven Kräften kommen. Ohne diese Haltung kommen wir migrantischen Aktivist*innen in eine Bittstellendenfunktion, die immer nur zu Anpassungen führt, die am Schluss in Enttäuschungen enden. Diejenigen, welche die Macht ausüben, müssen gezwungen werden, Rücksicht zu nehmen, wenn sie die Macht nicht diktatorisch ausüben wollen. Daraus entsteht ein Raum, ein Zwischenraum.
Wie setzen Sie, Sibel Arslan, die Kandidatur von Mandy Abou Shoak in einen Bezug zu Ihrer eigenen Erfahrung?
SA Ich sehe viele Parallelen. Ich beobachte aber, dass du, Mandy, nicht so zögerlich und ängstlich bist, wie wir es damals waren. Du hast zum Ausdruck gebracht, dass du diesen Raum jetzt willst. Das ist stark. Und es ist richtig. Du hast jedes Recht auf diesen Raum. Ich habe Freude an diesem Prozess. Aber der Weg, für den wir uns alle entschieden haben, ist immer auch mit Leiden verbunden. Doch aus diesem Leiden schöpfen wir zugleich Kraft. In der Politik hat das, was ich erlitten habe, immer wieder dazu geführt, dass ich neue Räume gesucht habe, um diesem Leiden entgegenzuwirken. Nur auf der Strasse zu sein, reichte für mich irgendwann nicht mehr. Ich forderte mehr Gestaltungsmöglichkeiten und wollte auch bei der Gesetzgebung eine Rolle einnehmen. Man muss sich diesen Platz holen und dafür kämpfen. Und dennoch gibt es immer wieder Tage, an denen ich von Bern nach Basel zurückreise und die Zeit im Zug nutze, um mich auszuheulen. Für uns Menschen mit Migrationsgeschichte wird das wohl auch in nächster Zukunft eine Realität bleiben. Wir befinden uns in einer politischen Transformationsphase. Wir erleben derzeit einen gravierenden Rückschritt. Wir schaffen es nicht, uns dagegenzustellen – wir machen den Rückschritt mit. Aber genau darin liegt auch der Anlauf für zwei Schritte nach vorn. Solche Bewegungen zeichnen sich bereits in den sozialen Medien und anderen Räumen ab. Menschen verspüren Angst um ihre Sicherheit und ziehen sich zurück, bis sie merken, dass sie in ihren Grundrechten eingeschränkt werden. Und dann werden sie kreativ werden – gemeinsam, ungeachtet der Unterschiede, woher sie kommen. Das ist meine Vision.
Wie geschieht Politisierung schon heute? Wie kommen die Menschen dazu, sich zu organisieren?
MAS Black Lives Matter wie auch die Me-too-Bewegung haben viele Menschen politisiert. Der Gaza-Krieg politisiert auch viele. Meine kürzliche Kandidatur hat Menschen mobilisiert. An den Übergängen und in den Verbindungen zwischen Bewegungen und institutioneller Politik gibt es sehr viele Hürden, aber auch ein sehr grosses Potenzial. Ich finde nicht, dass sich alle Menschen parteipolitisch engagieren müssen. Aber das gegenseitige Verständnis fehlt nicht selten. Das Verständnis dafür, was es zum Beispiel bedeutet, linke Politik zu machen in einem bürgerlichen Rat. Selbstverständlich braucht es erst einmal einen radikalen Aktivismus, um sich in der Politik überhaupt daran orientieren zu können. Aber zwischen den radikal aktivistischen Forderungen und der institutionell politischen Umsetzung liegen Welten. Die Frage ist also: Wie können Forderungen von Menschen, die von Ausschlüssen betroffen sind, an den institutionellen Orten, von denen sie entfremdet sind, zu Veränderungen und zu wirkungsvollen konkreten Massnahmen führen?
SA Ich wurde mit 24 Jahren in den Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt gewählt. Was ich in all den Jahren politischen Engagements gelernt habe: Man muss an eine Idee glauben. Am Anfang steht man oft ganz alleine da, und irgendwann gewinnt die Geschichte, die Erzählung, von der man überzeugt ist. Mein Zauberrezept ist es, beweglich zu bleiben: Man muss einerseits den institutionellen Weg gehen, ihn gut verstehen und das Wissen weitergeben. Es gibt nach wie vor viele Menschen, die keinen Zugang zu den Strukturen haben, dieses Handwerk nicht erlernen können. Besonders für Menschen mit Migrationsgeschichte existiert eine gläserne Decke. Andererseits ist es essenziell, in den politischen Bewegungen aktiv zu bleiben, in Vereinen, in migrantischen Organisationen. Sonst verändern sich die Menschen und werden zu Schreibtischpolitiker*innen. Doch Politik entsteht nie an einem Schreibtisch, sondern immer auch auf der Strasse.
Wir dürfen uns nicht verunsichern lassen und müssen lernen, unsere Zeit richtig zu lesen. Themen, die wir über Jahre hinweg angesprochen haben, werden plötzlich selbstverständlich. Ich sehe das bei LBGTIQ+- und bei Gleichstellungsthemen. Mit der Teilhabe der betroffenen Menschen in den Gremien ändert sich etwas. Was wir diesbezüglich als migrantische Bewegungen erreicht haben, ist vielleicht noch nicht sehr viel, aber wir sind auch nicht mehr inexistent und unsichtbar.
S Ich sehe, dass in den sozialen Bewegungen – bei Black Lives Matter sowieso, aber auch in der feministischen Bewegung oder jetzt in der Bewegung gegen den Gaza-Krieg – sehr viele migrantische Leute aktiv sind. Weniger in der Ökologiebewegung, die weitgehend mittelständisch geblieben ist. Doch dieser Aktivismus wird von den progressiven Parteien nicht wirklich bemerkt. Zum Teil gingen einzelne wie du, Mandy, in die Parteien hinein, aber es gibt den grossen Abstand, den du beschrieben hast. Es braucht Allianzen, um die Kluft von den Bewegungen her zu überbrücken. In Bezug auf den Feminismus ist das vielleicht zum Teil gelungen; aber die Antikriegsbewegung zum Gaza-Krieg erlebt noch eine enorme Distanz zu grossen politischen Organisationen, die den Lippenbekenntnissen nach auch gegen den Völkermord sind, aber nicht viel tun. Wenn allerdings die progressiven Parteien nicht auf die ausserparlamentarischen Bewegungen zugehen, um Allianzen zu bauen, haben wir ein Problem. Radikale Bewegungen schaffen diese Annäherung aufgrund von mangelnden positiven Erfahrungen oft nicht aus eigener Kraft. Dann kommen Dinge nicht zusammen.
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um, mit Frustrationen, mit Erschöpfung?
S Ich bin froh, dass ich in den 1970er Jahren durch endlose linke Schulungskurse gegangen bin. Vieles war unnötig, und ich las viele dicke Bücher, deren Inhalt ich zum Glück wieder vergessen habe. Aber linkes Denken hat mir sehr stark geholfen, individuelle Momente der Enttäuschung auch gegenüber Freund*innen besser zu bewältigen und Hintergründe, gesellschaftliche Zustände, die Menschen zu dem machen, was sie sind, zu verstehen. Wenn ich nicht wüsste, was Kolonialgeschichte und was White Supremacy, weisse Vorherrschaft, sind und wie eurozentristische Weltsichten funktionieren, dann hätte ich meine Emotionen vielleicht auch gegenüber Freund*innen ab und zu nicht unter Kontrolle halten können.
MAS Ich bleibe eine hoffnungslose Optimistin. Was in den sechs Wochen des internen Wahlkampfs um meine Bewerbung als Stadtpräsidentin von Zürich passiert ist, war unglaublich. Ich kann kaum in Worte fassen, welche Energie so viele unterschiedliche Menschen erfasst hat. Das hat mich berührt, gestärkt und hoffnungsvoll gestimmt. Auch wenn meine Nomination und Wahl jetzt nicht geklappt haben: Es ist klar, dass Menschen wie wir in Zukunft Teil einer Regierung sein werden. Die Frage ist nur wann. Für mich steht im Moment im Fokus, aus dieser Erfahrung Kraft zu schöpfen und dazu beizutragen, dass wir unsere Kraft nicht verlieren. Und ich bin gleichzeitig davon überzeugt, dass die Nominierten einen guten Job machen werden.
S Du bist jetzt hier nicht in der SP …
MAS Doch, ich bin eben in der SP. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass die Partei ein Potenzial hat, Migrant*innen aufzunehmen, zu beheimaten und ihnen eine Perspektive zu bieten, wäre ich nicht hier.
Woher nehmen Sie, Sibel Arslan, den langen Atem?
SA In meiner politischen Arbeit habe ich viel vom Basketballspielen profitiert. Dort lernt man, bis zum Schluss durchzuhalten. Du kannst nicht in den ersten fünf Minuten Vollgas geben. Es ist ein Teamspiel. Und manchmal verliert man. Ich war auch Schiedsrichterin, da braucht es einen sehr klaren Kompass. Von der stoischen Philosophie habe ich Gelassenheit gelernt. Was bringt es mir oder der Sache, wenn ich mich ständig aufrege und am Ende nur noch frustriert bin? Bei jedem politischen Geschäft bin ich mit voller Kraft dabei, mit Herz, Engagement und all den Narrativen, die dazugehören. Doch sobald ein Dossier abgeschlossen ist, beende ich auch meinen inneren Kampf. Dann gilt es, neue Kräfte zu sammeln für den nächsten Einsatz. Ich möchte beweglich bleiben, gerade in den bestehenden politischen Konstellationen.
Das klingt sehr besonnen. Was ist denn aus den revolutionären Träumen geworden, Samir?
S Ich bin in einer schiitisch-kommunistischen Familie aufgewachsen, in der es für die Zeit nach dem eigenen Leben gleich zwei Paradiese zu erkämpfen gab. Aber heute bedeutet für mich Revolution, immer Teil der Veränderung jetzt zu sein, und die gibt es auf verschiedensten Ebenen. Du kannst keine Revolution planen. Dass wir 1980 in Zürich plötzlich 15 000 Menschen auf der Strasse waren, war nicht absehbar, denn zuerst kamen nur 200 zum Protest vor das Opernhaus. Und dann war innerhalb einer Nacht die Stadt besetzt. Zuvor hatten wir Hunderte von Aktionen gemacht, an denen wir Spass hatten, wir hatten die Unterführung in der Langstrasse besetzt und Pappfiguren durch die Stauffacherstrasse geschleppt, um den Autoverkehr zu blockieren.
Hat sich etwas verändert? Ich glaube, wir haben heute einen grösseren Einfluss in der Gesellschaft. Dass die NZZ und andere Medien die ganze Zeit gegen woke Menschen hetzen, hat mit der reellen Kraft progressiver Haltungen in den letzten vierzig Jahren zu tun. Vorstellungen, die Gesellschaft in Richtung eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens von Menschen mit gleichen Rechten verändern zu wollen, haben stark Fuss gefasst. Das Bellen von Musk, Trump, Merz und wie sie alle heissen, ist vielleicht Ausdruck davon, dass sie merken, wie sie ihren Willen nicht wirklich durchsetzen können.
Sie haben den schiitischen Hintergrund Ihrer Familie erwähnt, Samir. Können religiöse Ressourcen auch eine Rolle spielen in der postmigrantischen Bewegung für eine neue Schweiz?
S Ich bin ja eben mit zwei Religionen aufgewachsen, dem Kommunismus und dem Islam. Diese doppelte Überzeugung, für das Bessere zu kämpfen, hat mich geprägt. Als ich verstanden habe, dass die Revolution nicht auf der Barrikade stattfindet und dann das System auf einen Schlag besser wird, und auch dass das Himmelreich nie kommen wird und ich den Mehdi nie werde antreffen können, war für mich klar: Ich muss selber nicht religiös sein. Aber mit sechzehn Jahren kam ich hier in dieses Haus, weil ich mit einem Enkel von Leonhard Ragaz befreundet war, und staunte: Was ist denn das, religiöser Sozialismus?
Religiöse Menschen und ihre Spiritualität haben meinen ganzen Respekt – solange sie das Religiöse für sich behalten und vielleicht mit mir teilen durch die Art und Weise ihres Umgangs mit mir. Manchmal beneide ich sie fast ein wenig, dass sie in etwas aufgehen können, das grösser ist als sie, während ich, kleines Menschlein, auf diesem Erdenball sterben werde, ohne dieses grossartige Gefühl entwickeln zu können.
SA Ich teile deine Haltung. Ich habe einen alevitischen Hintergrund. Es ist eine Naturreligion, alle Lebewesen sind heilig und bedeutsam. Man betet, wenn die Sonne aufgeht und wenn der Mond erscheint, und bedankt sich. Man umarmt in der Tat die Bäume (lacht). Der Weg zum Göttlichen führt über den Menschen. Ich habe viel aus dieser Erziehung mitgenommen – etwa den Respekt gegenüber der Natur: Wenn man gegessen hatte, gab man den Tieren ihren Anteil, wenn man Wasser trank, gab man der Erde einen Schluck weiter. Religion ist für viele Menschen ein wesentlicher Teil ihrer Identität. Es ist wichtig, Vielfalt zu respektieren und gleichzeitig niemandem etwas aufzuzwingen. Religionsfreiheit hat für mich einen hohen Stellenwert. Umso enttäuschender ist es, wenn Kirchen aufgrund ihres Engagements – etwa für die Konzernverantwortungsinitiative oder im Bereich Migration – unter Druck geraten.
MAS Ich selber bin in einer muslimischen Familie mit einer säkularen Haltung aufgewachsen. Gewisse muslimische Traditionen wie das Fasten praktiziere ich, sie sind mir wichtig. Ich würde mich als spirituellen Menschen bezeichnen. Ich setze mich auch für den interreligiösen Dialog ein. Grundsätzlich finde ich: Was Menschen dabei unterstützt, ihr Leben zu bewältigen, Hoffnung zu schöpfen oder Kraft zu erhalten, ist gut und wichtig.●
*1989, ist in Khartum/Sudan geboren. Aufgrund der politischen Repression gegenüber ihrem Vater floh die Familie in die Schweiz. Abou Shoak studierte Soziale Arbeit in Luzern und Berlin. Sie ist Verantwortliche für Bildung und Beratung bei der NGO Brava und Co-Präsidentin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ. Seit 2023 ist sie in der SP-Fraktion Mitglied des Zürcher Kantonsrats.
*1980, ist als Kind in ihrer kurdischen Familie in der Türkei aufgewachsen. 1991 kam sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern in die Schweiz, wo ihr Vater seit seiner Flucht bereits lebte. Sie ist Juristin, türkisch-schweizerische Doppelbürgerin und lebt in Basel. Von 2005 bis 2016 war sie als Mitglied von BastA im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt. Seit 2015 ist sie als Mitglied der Fraktion der Grünen im Nationalrat.
*1955, ist als Sohn einer Schweizerin und eines Irakers in Bagdad und Dübendorf aufgewachsen. Er ist Schweizer Filmemacher, Filmproduzent und Regisseur und lebt in Zürich. 2024 kam sein Dokumentarfilm Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer in die Kinos.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1995, ist verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Neuen Wege, Religionswissenschaftlerin und SP-Politikerin in Bülach.