Standhalten

Iren Meier, 28. Mai 2025
Neue Wege 3.25

«Nein sagen hat eine grosse Schönheit.» Ich behaupte nicht, dass ich diesen Satz auf Anhieb verstehe. Auch nicht nach intensivem Nachdenken. Je länger er mit mir geht, umso geheimnisvoller wird er. Er hat mich mitten ins Herz getroffen. Ausgesprochen hat ihn Mohammad Rasoulof, der grosse iranische Filmregisseur. Er erforscht in seinem jüngsten Meisterwerk Die Saat des heiligen Feigenbaums den Menschen, der in einem Unrechtsregime seine Position und seine Haltung finden muss. ­Rasoulof tut dies so nuanciert und vielschichtig, dass man ganz verwirrt aus dem Kino kommt, auf sich selbst und die grossen Fragen zurückgeworfen. Im ersten Augenblick würde man von ihm den Satz erwarten: «Nein sagen hat einen hohen Preis» oder «Nein sagen erfordert Mut». Aber er spricht von grosser Schönheit. Ganz entschieden. Und – so empfinde ich es – fordernd. Geh mit diesem Satz! Und ergründe ihn!

Ich hab mich auf den Weg gemacht. Auf Spurensuche. Und ich bin im Jahr 1985 in Südafrika gelandet. Im Wohnzimmer von Beyers Naudé. Was ist mir geblieben von der ersten persönlichen Begegnung mit einem Widerstandskämpfer?

Südafrika, blutend und aufgewühlt, wütend und laut, fünf Jahre bevor ­Nelson Mandela seine Freiheit zurückbekam. Beyers Naudé war nicht in einer Zelle auf Robben Island inhaftiert. Er war in einer Art Hausarrest gefangen. Als erster Weisser. «Gebannt» nannte man dies damals in Südafrika. Er war ohne Pass, ohne Bewegungsfreiheit, fast ohne Kontakt zur Aussenwelt. Zu Hause durfte er nicht mehr als einen Gast gleichzeitig empfangen. Ein aufrechter Mensch, geächtet und ausgegrenzt. Gefängnis und Isolation ohne physische Gitterstäbe, grausam auch dies. Unmittelbar vor unserem Besuch war Naudés Bann aufgehoben worden.

Ich seh uns noch durch den Vorgarten seines Hauses gehen, das Wohnzimmer betreten, in dem dieser tapfere Mann sass. Mit dem streng gescheitelten Haar, der altmodischen Brille, dem Anflug eines Lächelns. Man konnte ihn sich gut als Seelsorger vorstellen. Er redete deutsch. Und er redete leise.

Ich weiss noch, wie ich dachte: diese Biografie, dieser Weg. Und er tut so, als sei dies überhaupt nichts Besonderes. Seine Ahnen, die 1652 mit Jan van Riebeeck in der Tafelbucht landeten, waren unter den ersten Siedler*innen. In burisches Urgestein hineingeboren, leistete Naudé den Treueeid zum «Afrikanischen ­Bruderbund», der nationalistischen, rassistischen politisch-religiösen Bewegung der Buren. Sie wurde zum ideologischen Zentrum der Apartheid. Der Theologe Naudé stieg weit hinauf in der Hierarchie des Geheimbundes – und dann stieg er aus: Nach dem Massaker von Sharpeville 1960, als 69 Schwarze Menschen bei einer Demonstration erschossen wurden, brach er mit seiner Vergangenheit und wurde für seine Weggefährt*innen und seine geschlossene, ­privilegierte weisse Welt zum Verräter.

Für die Unterdrückten wurde er zu einem solidarischen Mitmenschen und weissen Mitkämpfer gegen das Unrecht und den Rassismus. Er trat in die Schwarze Reformierte Kirche ein. Der persönliche Preis, den er dafür zahlen musste, war hoch. Aber er verlor kein Wort darüber, als er uns damals die südafrikanische Wirklichkeit beschrieb. Keine Bitterkeit.

Warum ich an Beyers Naudé zurückdenke? Er ist doch schon lange tot, und Südafrika hat seine Freiheit errungen. Ich erinnere mich an ihn, weil mir etwas von jener Begegnung unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Diese Ruhe, die um ihn war. Genauer: dieser Frieden. Und sein Gesicht. Mit dem Ausdruck eines Menschen, der einen langen schweren Weg gegangen ist und nun mit sich und seinem Gewissen im Reinen ist.

Als ich Rasoulofs Satz gelesen habe, da war Beyers Naudé sofort präsent. Nein sagen hat eine grosse Schönheit.

Von Beyers Naudé führt meine Spur weiter zu Jovan Divjak. Sieben Jahre später. 1992 in Bosnien. Jovan Divjak, geboren als Serbe in Belgrad, wollte Lehrer werden. Seine alleinerziehende Mutter hatte das Geld für die Ausbildung nicht und schickte den Sohn in die Armee, eine kostenlose Alternative zum zivilen Studium. Jovan wurde General in der damaligen jugoslawischen Armee. Als das Unheil begann und diese Armee unter den serbischen Herrschern Sarajewo belagerte und beschoss, entschied sich Divjak für die andere Seite. Er blieb und half, die bosnische Armee aufzubauen, um Sarajevo zu verteidigen. Warum? «Ich konnte nicht anders», sagte er später. Ein serbischer General beim Feind. Ein Verräter. Ein Überläufer. Misstrauen, Hass, Verleumdung …, nichts, was er nicht erfahren hat.

Warum ich an Jovan Divjak zurückdenke? Auch er ist tot. Und die jugoslawischen Kriege werden längst von anderen, neuen überlagert. Die Bilder von damals verschwimmen. Aber nicht alle.

Es war 1992, im ersten Jahr des ­Krieges. Fehim, 17 Jahre alt, und Mirza, 12 Jahre alt, spielten vor ihrem Haus im belagerten Sarajevo mit Freunden Basketball. Eine Granate, abgefeuert aus serbischem Gebiet, traf die Jugendlichen. Tötete die Brüder und einen ihrer Freunde.

Halida Bojadži, die Mutter von Fehim und Mirza, fand ihre Söhne in Stücke zerrissen. Jovan Divjak machte sich nur Stunden später auf den Weg zu Familie Bojadži. Er war nervös, er hatte Angst: «Ich wusste nicht, wie sie auf mich reagieren würden. Den Serben.» Es gibt eine TV-Dokumentation, in der sich Divjak erinnert, wie er langsam die Treppe zum Garten der Familie hinaufstieg, wie sich der General und die verwaiste Mutter begegneten: «Er umarmte mich und weinte wie ein Kind», sagte Halida später. «Er kam zu uns als Serbe. Er teilte mit uns den Schmerz, den nicht er verursacht hatte. Er bat um Vergebung für andere.»

Ein Moment von grosser Schönheit.

Jovan Divjak und die Eltern Bojadži haben einander nie mehr verloren, ein Band verband sie bis zu ihrem Tod. Und der General, der gerne Lehrer geworden wäre, hat sich nach dem Krieg bosnischen ­Waisen angenommen und ihnen gezeigt, was Versöhnung ist. Frieden. Respekt. Und Mut.

Der Einwand ist berechtigt: Das sind die Tapferen, die Grossen. Zu gross für mich? Aber an wen sollen wir uns halten, wenn nicht an sie? In den Stürmen dieser Welt, in denen wir Stand und Halt suchen müssen. Wenn Wahnsinn, Grausamkeit und Entmenschlichung zu politischen Programmen werden. Von Neuem. Vielleicht einfach anfangen. Leise, bescheiden. Ein kleines, ein zögerndes und ängstliches Nein kann von grosser Schönheit sein.

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.