Patrice de Mestral, Sie haben in den 1980er Jahren in Zürich die «Arbeitsstelle für kirchliche Grenzgänger» geschaffen. In den Neuen Wegen sagten Sie einmal rückblickend: «Kirchliche Grenzgänger haben emotional eine lose bis gebrochene Beziehung zur Institution Kirche. Sie sind dennoch oder gerade deswegen suchende Menschen – oft als Folge einer Krise in ihrem Leben, wie Scheidung, Klinikaufenthalt, Arbeitsverlust. Wir versuchten, verschüttete religiöse Erfahrungen zu verarbeiten und diese Menschen für eine Präsenz in der Welt zu gewinnen.» Welche Erfahrungen machten Sie vor vierzig Jahren an der Grenze der Kirche?
Patrice de Mestral Ich war in den Jahren des Aufbruchs der 1970er Jahre Studienleiter im Tagungszentrum Boldern, einer evangelischen Akademie, und konnte dort während fünfzehn Jahren in einem Dream-Team interdisziplinär mit Theolog*innen, Germanist*innen, Historiker*innen oder Sozialpsycholog*innen zusammenarbeiten. Wir bearbeiteten gesellschaftliche Themen – Scheidung, Migration, Entwicklungspolitik, Friedensforschung oder Militärdienstverweigerung – immer gemeinsam mit den betroffenen Gruppen. Nach fünfzehn Jahren hatte ich das Gefühl, auf der kirchlichen Grenze gelebt zu haben. Wenn man anwaltschaftlich Bildungsarbeit macht, muss man Position beziehen, aber gleichzeitig lernen, auf die Gegner*innen einzugehen. Ich wurde oft angegriffen als zu links, zu rechts, zu fromm, zu liberal. Das kostete mich einiges.
Welche Konsequenz zogen Sie daraus?
PdM Nach fünfzehn Jahren wollte ich vom Tagungszentrum auf dem Land weg in die Stadt. In einem Studienurlaub klopfte ich zuerst grosse europäische und US-amerikanische Städte ab: Was entwickelt sich am Rand der Institution Kirche? Ich merkte, dass es vom Rand her interessant wird. Die Institution klebt fest, glaubt, sie sei das Zentrum, und bezeichnet die anderen als Randsiedler*innen und Distanzierte. Aber es war umgekehrt. Mich begeisterte damals ein Vortrag von Dorothee Sölle zum Thema «Kirche ist auch ausserhalb der Kirche». Ein Institut für Gemeindeaufbau in Hamburg sprach nicht von Randsiedler*innen, sondern von kirchlichen Grenzgänger*innen. Unter diesem Titel unterbreitete ich dem Zürcher Kirchenrat ein Konzept. Nach anfänglicher Skepsis konnte ich die Arbeitsstelle für kirchliche Grenzgänger aufbauen – heute würden wir sie wohl ohne das Adjektiv «kirchlich» benennen …
… und gendern.
PdM Neben einem kleinen Pensum als Gefängnisseelsorger war ich in einem 70-Prozent-Job für die Arbeitsstelle tätig. Ich organisierte beispielsweise Seminare zur Verarbeitung verschütteter religiöser Erfahrung für Fromme, für Atheist*innen, für trans Personen. Ein Hauptprojekt war das «Rendez-vous am Donnerstag», eine Kaffeehauskirche, wo in Gruppen über das Leben, über konkrete Themen gesprochen wurde. Die Kioskfrau war da, der Anwalt, der gestrauchelte Professor, eine ungeheure Vielfalt.
Sind Sie in Ihrer eigenen religiösen Identität ein Grenzgänger geblieben?
PdM Ich habe als Laie Theologie studiert. Ich wollte nie Pfarrer werden. Das ergibt eine andere Identität: Ich kam immer wieder von der Aussengrenze her in die Kirche hinein. Der Theologe Paul Tillich hat den Satz geprägt: «Die Grenze ist der fruchtbare Ort der Erkenntnis.»
Johanna Di Blasi «Grenze» ist ja kulturell sehr aufgeladen. An der Grenze findet die Transgression als künstlerische Strategie statt. Gerade in der Kultur der Moderne ist die Grenze der wichtige kulturelle Ort. Mir gefällt die Definition von Religion sehr, wonach es um Erfahrung an der Grenze geht. Wenn ich mich an diese Grenze wage, öffnen sich Räume. Die Grenze ist auch der Ort, wo man die Beschaffenheit eines Systems erkennen kann. Ich nehme das Bild des Gewebes: Beim Gewebe kannst du an den Rändern sehen, wie es aufgebaut ist. Die Grenze ist der Raum, der mich anzieht. Ich suche – auch in der Reflexion – das Wegkommen vom Zentrum, die Dezentrierung, eine ähnliche Bewegung kennzeichnet das postkoloniale Denken.
Abduselam Halilovic, wie würden Sie sich religiös verorten? Liegt Ihre Identität innerhalb klarer religiöser Grenzen?
Abduselam Halilovic Wenn ich jetzt über mich selbst spreche – aber ich sehe das auch in meinem Umfeld –, sind die religiöse Biografie und die religiöse Identität sehr komplex. Ich kann mich nicht einfach zuordnen, ob ich in der Gemeinschaft oder ausserhalb der Gemeinschaft bin. In meinem Leben hatte ich verschiedene Phasen. Es gab zuerst die Zeit des In-der-Gemeinschaft-Seins. Ich komme aus einer Familie, die religiös praktizierend ist. Dazu gehören im Islam das tägliche Gebet und andere regelmässige Praktiken sowie stark präsente normative Überzeugungen und Wertvorstellungen. Ich distanzierte mich als Teenager davon und wollte mit Religion nichts mehr zu tun haben. Ich ging an die Grenze, über die Grenze hinaus. Als zu der Zeit faktisch Nichtglaubender entdeckte ich den Islam neu über den Sufismus, die islamische Mystik. Ich war mehrere Jahre lang Mitglied in Sufi-Ordensgemeinschaften. Dazu kam ein intellektuelles Interesse an meiner religiösen Tradition, weshalb ich an der Universität Zürich Islamwissenschaft studierte. Diese wissenschaftliche Auseinandersetzung mit meiner Religion habe ich aber spirituell nicht als erfüllend erlebt.
Wo stehen Sie heute?
AH Heute würde ich mich sowohl in der Mitte der Gemeinschaft als auch an ihrer Grenze verorten. Für meine religiöse Identität ist mir, neben der islamischen Mystik und der akademischen Islamwissenschaft, die muslimische Seelsorge wichtig. Sie liegt mir sehr am Herzen, auch wenn ich nie wirklich geplant hatte, muslimischer Seelsorger zu werden. Heute ist es für mich zugleich Beruf und Berufung. Als Seelsorger*in ist man nahe an Grenzerfahrungen dran. Man sieht ins Leben, so wie es ist. Es geht mit diesen Erfahrungen nicht mehr, sich religiös nur selbst zu bestätigen. Ich habe rasch gewisse Fantasien abgelegt, wie die Welt sein sollte und was von den Menschen zu erwarten ist. Ich begleite beispielsweise multireligiöse Familien, das ist für mich eine völlige Normalität, die ich vor einigen Jahren überhaupt nicht kannte. Aber ich bin auch im VIOZ, dem Dachverband der muslimischen Organisationen des Kantons Zürich, tätig. Wir Muslim*innen stehen gewissermassen im umgekehrten Prozess, wie ihn die anerkannten Religionsgemeinschaften erleben. Die muslimischen Religionsgemeinschaften versuchen, die staatliche Anerkennung zu erreichen, und sind im Prozess, eigene Institutionen, beispielsweise im Bereich der Seelsorge oder der Ausbildung religiöser Betreuungspersonen, aufzubauen. Auch wenn ich das wichtig finde, frage ich mich manchmal, ob es der intelligente Weg sei, im selben Boot zu landen wie die bereits anerkannten Religionsgemeinschaften und durch die Institutionalisierung eine Trennung zwischen Muslim*innen ausserhalb und innerhalb organisierter muslimischer Gemeinschaften zu schaffen. Das alles zusammen ist die Komplexität oder die Hybridität, in der ich lebe.
Johanna Di Blasi, wie fällt Ihre religiöse, Ihre spirituelle Selbstbeschreibung aus?
JDB Auch ich als Kunsthistorikerin habe ein komplexes Nähe-Distanz-Verhältnis zu Religion. Es ist gegenüber der Institution Kirche ein Sowohl-drinnen-wie-draussen-Sein. Das passt mit meiner Arbeit beim RefLab zusammen. Dieses reformierte Laboratorium ist eine Institution, die sich, so heisst es im Kirchenentwicklungsjargon, an Kirchendistanzierte wendet. Wir sehen uns als das digitale Lagerfeuer der Landeskirche. Wir sind im Wesentlichen im Netz unterwegs, sozusagen als Stadtakademie im Internet. Wir möchten gemeinsam mit Interessierten unterwegs sein, gemeinsam lernen. Das RefLab hat gezielt nach Mitarbeiter*innen gesucht, die medienversiert und christentumsaffin sind, die aber auch Menschen ansprechen können, die sich selber nicht diesem klassischen Milieu zugehörig fühlen. Ich fühle mich im RefLab sehr angekommen.
Sie bringen das Stichwort Interspiritualität in die Debatte ein. Was verstehen Sie darunter?
JDB Ich bin seit Jahren im Redaktionsteam der Zeitschrift kunst und kirche und eine genaue Beobachterin des Feldes der Kunst. Mir wurde deutlich, dass in der Kunst Spiritualität immer häufiger eine Rolle spielt, je nachdem auch zusammen mit Care und Healing. Das war noch vor zehn Jahren anders, da wurde Spiritualität noch mit Ethnokitsch oder Esoterik gleichgesetzt. Wenn sich die Künstler*innen mit etwas beschäftigen, interessiert das einige Jahre später alle. Ich habe das bei den Themen Postkolonialismus oder Queerness beobachtet. Deshalb bin ich hellhörig geworden. Einmal hat mir ein Künstler aus Paris an einer Ausstellung in Zürich gesagt: «Spirituality is super interesting.» Als ich zurückfragte, was er darunter versteht, konnte er zunächst nichts dazu sagen. Dann bemerkte er: «Spiritualität öffnet vielleicht andere Räume.» Da dachte ich mir, es wäre schön, den Raum zu haben, wo Künstler*innen, die sich dafür interessieren, und wir mit dem theologischen oder religiösen Hintergrund zusammenkommen können. So kam ich auf den Begriff des interspirituellen Raums und auf den Begriff «Interspiritualität» und merkte, dass er im angelsächsischen Raum gefüllt ist, bei uns aber noch kaum. Vielleicht kann Interspiritualität ein Labor sein, wo wir ins Offene denken und noch nicht mit vorgeformten Begriffen hineingehen. Die gemeinsame Aufgabe: Welche Spiritualität brauchen wir im 21. Jahrhundert?
Ist Interspiritualität für Sie nun ein Raum, ein Labor, in dem von allen Seiten her etwas hinein- und zusammenfliesst, wo alles Platz hat, das gerade dort ankommt? Oder ist das konkret neu Entstehende das Eigentliche der Interspiritualität? Ist der Raum ein Möglichkeitsraum für die Entwicklung von Zukünftigem?
JDB Natürlich kann man sich bei den weiten und vagen Begriffen «Spiritualität» und «Religion» Klischees entlanghangeln. Ich möchte aber ernsthaft schauen, was für ein Potenzial in diesen Begriffen liegt. Ich würde die Interspiritualität erst einmal der Interreligiosität und der Ökumene gegenüberstellen, bei denen es um einen Raum geht, in dem die Religionen oder die Konfessionen zusammenkommen. Man spricht miteinander, meditiert und betet vielleicht zusammen. Interspiritualität ist zugleich inklusiver und geht tiefer. Sie setzt stärker bei den Gemeinsamkeiten an als bei den Unterschieden. In diesen Raum trete ich nicht als Muslim oder als Christin oder als Theologieprofessor ein, sondern – wenn man beim Wort bleibt – als geisterfülltes Wesen. Es geht nicht darum, die eigene Identität aufzugeben, sondern sie tiefer zu fassen. Allein wenn jemand eine muslimische Mutter und einen christlichen Vater hat, ergibt sich das. Oder wenn Leute sagen, sie seien spirituell, aber nicht religiös. Oder wenn wir feststellen, dass wir religiöse Anteile haben, aber auch säkulare. Hybride Formen, die schnell als Mischmasch oder oberflächlich erscheinen mögen, gehören in diesen Raum.
Dabei kommt für mich das Politische dieses Begriffs zum Tragen: Es geht um issues, wie sie die Cultural Studies benennen, um Themen, um Anliegen, die wir, aus verschiedenen Richtungen kommend, vertiefen müssen, wie das Engagement für den Frieden oder für die Umwelt. Für Interspiritualität ist das vertiefte Verhältnis zu sich selbst, zur Mitwelt und zu Gott kennzeichnend. Interspiritualität kann ein Raum sein, den Menschen besiedeln können, Grenzgänger*innen, die merken, dass ihr Gottesbild so weit geworden ist, dass es Platz hat für scheinbar Widersprüchliches.
Wenn Sie, Abduselam Halilovic, nun dieses Bild eines spirituellen Labors vor sich sehen: Klingt aus Ihrer Erfahrung etwas an? Widerspiegelt es Wahrnehmungen von Realitäten in Ihrem Kontext? Oder sehen Sie Interspiritualität eher als philosophische Hypothese abseits Ihres Zürcher Alltags?
AH Ich fand den Satz «spirituality is super interesting» interessant und die Erfahrung, dass beim Nachfragen weitere Worte fehlen. Solche Momente erlebe ich immer wieder. Menschen sagen, sie seien offen für Spiritualität, aber mit Religion könnten sie nicht viel anfangen. Auch viele sich selbst als muslimisch definierende Menschen formulieren es so. Den Begriff «Interspiritualität» kenne ich noch kaum. Vielleicht bin ich noch zu sehr in meiner eigenen religiösen Tradition verhaftet, in meinem eigenen religiösen Habitus; ich habe Mühe, Interspiritualität zu füllen. Zwar ging ich persönlich an die Grenze und über die Grenze hinaus, aber ich kehrte danach bewusst wieder zurück in die eigene Tradition. Zu Interspiritualität habe ich Fragezeichen: Wie würde ein interspirituelles Ritual aussehen? Oder wie findet ein interspirituelles seelsorgerliches Gespräch statt? In meiner Arbeit als muslimischer Seelsorger spreche ich zu neunzig Prozent mit muslimischen Menschen, die aber eben in ihrer Praxis, in ihrer Identität sehr divers sind. Oder ist Interspiritualität in meinen seelsorgerlichen Begegnungen mit nichtmuslimischen Menschen zu finden?
JDB Sie erwähnten zuvor biografisch die Sufimystik. Empfinden Sie den Begriff «Spiritualität» als einen christlichen?
AH Nein. Eine tief verstandene, tief gelebte, auch eine islamisch geprägte Spiritualität geht über das Religiöse im Sinn der religiösen Identität des Individuums wie auch des Kollektivs hinaus. Wenn der persische Sufimystiker Rumi im 13. Jahrhundert sagt: «Komm, komm, wer auch immer du bist», geht es nicht mehr darum, wie du dich selbst definierst.
JDB «Jenseits von richtig und falsch werden wir uns begegnen», sagt Rumi ja auch.
PdM Ich habe weniger Berührungsängste mit dem Wort Religion, wenn ich es im Sinne des Theologen Paul Tillich definiere: Religion ist das, was mich zutiefst betrifft und von dem ich mich ergriffen fühle. Es ist also nicht ein «Reden über», sondern ein Betroffensein. Über diese Schiene, auch über Kunst, Musik, ist Religion kein Problem, da ist noch nichts von Konfession. Wenn ich mit Menschen, mit Grenzgänger*innen darüber rede, was sie zutiefst angeht, kommen Sexualität, Liebe und viele weitere Lebensdimensionen zur Sprache, die berühren. Manchmal sind mir diese spirituellen Ausflüge, über die wir hier sprechen, zu sehr individualistische Heilssuche. Dann bin ich ganz froh, dass es einen Rahmen gibt, Institutionen, muslimische, katholische oder reformierte, die eine Geschichte haben. Spiritualität kommt mir manchmal «hors-sol» vor: Alles geht, wir brauchen keine Definitionen – aber die Sache hat keine Wurzeln.
JDB Bei Spiritualität schwingt oft mit, dass es um etwas Individualistisches geht: Ich suche mir auf dem Sinn-Supermarkt die Dinge zusammen. Das steht in einer Spannung zu meinem Begriff von Spiritualität: verbunden sein, mit meinem menschlichen Gegenüber, aber auch mit meiner Mitwelt. Die individuelle Erfahrung muss der Ausgangspunkt sein. Wir sind im Zeitalter der Mündigkeit, für die meisten von uns ist es glücklicherweise vorbei, dass uns Grossinstitutionen sagen, was wir denken und glauben sollen. Ich kann nur bei meiner Ergriffenheit ansetzen, aber dann versuchen, sie in den Dienst von etwas Grösserem zu stellen, ich kann das «Göttliches» nennen.
Wenn Spiritualität individuell anpassbar ist – geht dann nicht das kollektive Element von Religion und die damit verbundene gesellschaftliche und politische Handlungsfähigkeit verloren?
JDB Kollektive zu bilden ist ja in der heutigen Zeit eine ganz neue Wissenschaft. Das hat mit Netzen zu tun, mit Vernetzung. Es gibt Studien zu religiösen Influencer*innen in den sozialen Netzwerken: Wen können diese einsammeln, und welche Qualität haben die entstehenden Communitys? Es zeigt sich, dass es um sehr flüssige Gebilde geht, es gibt den Begriff der Liquid Church. Bei «Liquidität» liegt dann natürlich auch die Liquidierung von Kirche nicht mehr fern … Die Studien kommen zum Schluss, dass Communitys und auch Kirchen im Netz schwache Organisationen sein werden, schwach im Sinne dessen, dass sie den Leuten nicht vorgeben, was sie zu denken haben, sondern dass sie sich auf Bedürfnisse einlassen, dass sie versuchen müssen, zu interagieren.
Und wie verhält sich das nun beim neuen Thema Interspiritualität?
JDB Interspiritualität als Denkexperiment ist gar nicht so neu. Der US-amerikanische Benediktinermönch Wayne Teasdale prägte den Begriff 1999 in seinem Buch The Mystic Heart. Im Hintergrund standen bereits die Friedensfrage und die Ökokrise. Teasdale meinte, dass aus einem tiefen Gefühl des Verbundenseins ein Engagement für den Planeten entstehen müsse. Teasdale hat auch eine Bewegung von Menschen geschaffen. Mich hat das elektrisiert. Er war ein Schüler von Bede Griffiths, dem Benediktinermönch, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Indien einen Aschram gründete und damit religiöse und auch nichtreligiöse Menschen anzog. Interspiritualität kann da eine Brücke schaffen. Bede Griffiths hat Verbindungen zwischen Hinduismus, Buddhismus und Katholizismus geknüpft. Es gibt aber die Kritik an den beiden Benediktinermönchen, dass sie bei aller Öffnung trotzdem christozentrisch gedacht hätten. Das könnte – so die postkoloniale Kritik – auch ein verdeckter Versuch sein, zum Beispiel den Hinduismus theoretisch zu einer Art Variante des Katholizismus zu machen.
PdM Sie sprechen von Benediktinern. Ich gehe immer wieder in das Zisterzienserkloster in Hauterive in Freiburg in der Schweiz, weil ich dort die gelebte Spiritualität der Mönche erfahre, die von der Praxis des gregorianischen Gesangs geprägt ist. Mönche haben eine Disziplin. Und das möchte ich auch für mein Leben nicht aufgeben: Ohne dass ich in einer gelebten Praxis geerdet bin, die sich jeden Tag in irgendeiner Form mit heiligen Texten beschäftigt, regelmässig wie das Zähneputzen, fehlt etwas an dieser Spiritualität. Die Ordensleute sind nur Ordensleute, weil sie – interessanterweise wie die Muslim*innen – täglich ihre Gebete halten. Das gibt eine unglaubliche Power.
JDB Sind Sie, Abduselam Halilovic, noch mit uns im Raum der Interspiritualität oder haben wir Sie verloren?
AH Bei der Debatte um Interspiritualität oder auch oft im interreligiösen Dialog zeigen sich zementierte Ungleichbehandlungen von Menschen. Die Frage, welche Macht, welche Anerkennung und welches Gehör eine Gruppe hat, ist da für mich zentral: Die Macht zur Selbstermächtigung, zur Teilhabe, wird einem grossen Teil der Bevölkerung verwehrt. Die muslimische Gemeinschaft, aber auch die christlich-orthodoxe und viele weitere Religionsgemeinschaften werden strukturell, rechtlich, ökonomisch ungleich behandelt.
Uns gibt es als Kollektiv gewissermassen immer noch gar nicht, die Gesellschaft will uns nicht sehen, man drängt uns nach wie vor an den Rand. Auf uns kann es zynisch wirken, wenn es heisst: «Wir sind jetzt schon weiter, wir sind jetzt bei der Interspiritualität und wollen das Ganze sowieso auflösen.» Das sind Dilemmata, teilweise auch Frustrationen und Verletzungen, die wir mit uns tragen.
JDB Wenn Interreligiosität vom Staat und von der Gesellschaft ernst genommen wird, müssen nichtchristliche Glaubensgemeinschaften und Religionen auch staatliche Mittel bekommen, sofern sie sich sozial und seelsorgerisch betätigen.
Auch wenn es widersprüchlich klingt: Gerade religiöse Traditionen und die kritische Auseinandersetzung mit ihnen ermöglichen Religions- und Herrschaftskritik. Wenn Interspiritualität für alles offen ist: Wer kritisiert dann den religiösen Fundamentalismus in Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus, das menschenverachtende Potenzial von Religionen? Wie kann dem Missbrauch von Religion durch staatliche Macht widerstanden werden? Wer entlarvt die Götzen des Kapitalismus, des Konsums, des unendlichen Wachstums?
AH Was ich auch innerhalb meiner muslimischen Community feststelle, macht mir Sorgen: eine gewisse identitäre, teilweise sehr verschlossene, sehr dogmatische Praxis, die leider auch von jungen Menschen getragen und als Halt gesucht wird. Es gibt auch in spirituellen Bewegungen, die sich nicht als religiös definieren, problematische Aspekte von Macht und Unterwerfung. Mir ist es wichtig, dass Kritik bestehen bleibt, die Kritik an der Macht, die Kritik am Krieg, Kritik an der Politik und eben auch die Kritik an religiösen Autoritäten.
JDB Im Spiritualitätsbegriff, wie ich ihn verwende, steckt durchaus schon eine Kritik, weil Spiritualität sehr häufig etwas Ausserinstitutionelles war und ist. Aber zu sagen, Spiritualität stehe notwendigerweise in Opposition zu Religion, ist ein Missverständnis; Spiritualität nährt sich aus der Religion und umgekehrt. Wir brauchen einen Raum für das Gespräch, weil es im Bereich von Religion einerseits sehr schnell zu identitären Verhärtungen und Engführungen kommen kann und es andererseits die überzogenen Verbote gibt, sich Elemente aus anderen Traditionen anzueignen. Wenn ich beispielsweise versuche, als Christin buddhistische Elemente zu integrieren, kann mir je nachdem auch das Recht dazu abgesprochen werden.
Ich finde, wir sollten heute Spiritualität sogar noch stärker öffnen und zugleich Machtverhältnisse mitbedenken. Gerade in den religiösen und theologischen Traditionen gibt es den menschlichen Exzeptionalismus: Wir Menschen sehen uns als etwas Hervorgehobenes. Politisch wird es angesichts des Zustands der Welt, wenn wir nicht nur menschliche Belange einbeziehen. Je nach Kosmologie kann Anima oder Seele sehr weit gefasst sein. Wir sind Geschöpfe neben anderen empfindsamen Wesen. Diese haben auch Rechte, und wir haben auch Pflichten, Menschenpflichten.
AH Die Natur ist in der islamischen Tradition sakral, weil sie Gottes Geschöpf ist, das gilt für jedes Tier und jede Pflanze und wird deutlich zum Beispiel an den Tieren, die im Koran sprechen. Wir haben auf der Erde eine Verantwortung als Statthalter Gottes, wie das der koranische Begriff des chalifa impliziert.
JDB Was der interspirituelle Raum auch sein kann, ist ein Raum der Demut. Wenn ich nochmals bei der Kunst anschliessen darf: Sie ist das hochkulturelle Feld, woran man gesellschaftlichen Wert ablesen kann. Dabei gibt es einen interessanten Ausschluss. Schon die Esoterikbewegung hat sich für die Spiritualität der anderen interessiert, beispielsweise für Sufispiritualität, aber, trotz Ausnahmen wie Hildegard von Bingen, kaum für christliche Spiritualität. In den bunten Regenbogen der Spiritualität passen wir Christ*innen am wenigsten rein. In den letzten Jahren sind viele indigene schamanische Künstler*innen in Museen, Biennalen oder Documentas eingeladen worden. Es wäre fast unmöglich, dort einen christlichen Priester hinzusetzen, der ein Ritual vollzieht. Das geht aufgrund der Geschichte von Kolonialismus und der Verbindung mit Imperialismus kaum. Ich finde, dass in einem Raum der Interspiritualität auch die christliche Spiritualität wieder Platz finden muss. Aber wir Christ*innen müssen uns sehr kritisch mit der eigenen Tradition auseinandersetzen, zum Beispiel mit der fragwürdigen Trennung von Hoch- und Buchreligionen versus Naturreligionen.
Welche Herausforderungen sehen Sie, auch im Licht dieses Gesprächs, auf uns zukommen? Wo gilt es, diese sich extrem in Veränderung befindliche Religionslandschaft neu wahrzunehmen?
AH Wir haben über die Liquidität gesprochen. Was ich feststelle, ist dieses Zerfliessen. Es zerfliesst irgendwie alles, Identitäten zerfliessen, individuelle Praxen zerfliessen. Für mich ist das eine Herausforderung. Als muslimischer Seelsorger etikettiere ich mich ja selbst. Ich begegne aber Menschen und Situationen, die immer fluider werden. Wo ist da die Orientierung? An der Universität Freiburg in der Schweiz läuft gegenwärtig genau ein Projekt mit dem Namen «Diversität und Orientierung». Und wenn man ein Stück weit Orientierung hat – wie verhindert man, dass sie dann sozusagen übergriffig wird und dogmatisch?
PdM In meinem Alter wird mir der jesuanische Geist immer wichtiger. Das ist ein katholischer Begriff. Jesuanischer Geist ist Widerstand, er durchbricht alle Grenzen, religiös, spirituell, sozial, kulturell oder was die Geschlechter betrifft. Da wird es politisch. Ich merke, dass man rund um diesen Begriff noch Leute begeistern kann. Das Historische an unserem Erbe möchte ich nicht einfach pseudospirituellen Gefühlswelten überlassen.
JDB Mich beschäftigt, was die Philosophin Corine Pelluchon «eine neue Aufklärung im Dienste des Lebens» nennt. Um eine grundlegende Perspektivenverschiebung geht es auch der interreligiösen Forschergruppe «Transcending Species – Transforming Religion». Mit ihrem Mitglied, dem christkatholischen Theologen Andreas Krebs, habe ich vor einiger Zeit für RefLab einen Podcast aufgenommen. Die Forscher*innen betrachten das christliche Erbe aus einer radikal selbstkritischen Perspektive: Zuerst kommt die Dekonstruktion und erst dann die Frage: Woran können wir anknüpfen?●
Patrice de Mestral, *1933, ist pensionierter reformierter Theologe und wohnt in Männedorf/ZH.
Johanna Di Blasi, *1968, ist Kunsthistorikerin, Kulturjournalistin und Bloggerin. Als gebürtige Österreicherin ist sie heute Mitarbeiterin der Reformierten Landeskirche Zürich, wo sie dem Team der Social-Media-Plattform RefLab (reflab.ch) angehört.
Abduselam Halilovic, *1992, studierte Islamwissenschaft, Geschichte der Neuzeit, Politikwissenschaft und Religionsphilosophie an der Universität Zürich. Seit 2019 ist er in der Geschäftsleitung des Vereins Qualitätssicherung der muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen (QuaMS) tätig und seit 2021 ehrenamtlich Präsident der kantonalen Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ).
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1968, arbeitet als Pfarrerin. Seit ihrem Studium der Theologie, Ethnologie und Religionswissenschaften mit Schwerpunkt Islam beschäftigt sie sich mit kontextuellen Theologien aus Frauensicht, der Rolle von Frauen in religiösen und kulturellen Traditionen und mit Konzepten vom «guten Leben», die ein nachhaltiges, friedlicheres und gerechteres Zusammenleben von Menschen untereinander und der Mitwelt ermöglichen. Sie ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.