Solidarität in Haft

Matthias Hui, 20. April 2019
4.19

Kirche und Politik, die Religionsgemeinschaften und der Staat: In allen möglichen Medien gibt es derzeit Kommentare und Gespräche dazu. Der Inhalt bleibt oft eigenartig abstrakt. Was ist eigentlich genau die Frage? Es gibt Momente, da prallen Kirche und Staat konkret aufeinander. So geschehen an einem Sonntagmorgen im Februar 2018 in Le Locle. Zwei Polizisten betraten die freikirchliche Eglise évangélique während des Gottesdienstes. Sie fragten nach dem Pfarrer mit Vornamen Norbert. Norbert Valley heisst der Theologe mit weissem Bart, der auch im Gottesdienst sass. Sein Familienname wäre im Telefonverzeichnis und er selber auch unter der Woche zu finden gewesen. Er verliess die Kirche mit den Polizisten noch während des Gottesdienstes und folgte ihnen auf den Posten. 

Im August 2018 kassierte Valley eine Geldstrafe von tausend Franken. Der Grund: Er hatte einem abgewiesenen Asylbewerber den Schlüssel seiner Kirche ausgehändigt, damit der Togolese im Notfall dort übernachten konnte. Damit habe er gegen den Artikel 116 des Ausländergesetzes verstossen. Es besagt, dass mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft wird, wer einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft.
Norbert Valley sagt, er habe nur seine Pflicht als Christ und als solidarischer Mensch getan. Er könne nicht Liebe predigen und dann Menschen als amtliche Dossiers behandeln. Der Pfarrer ist kein Einzelfall. Vor kurzem wurde die Baslerin Anni Lanz verurteilt, weil sie einen nach Italien ausgewiesenen, psychisch kranken Asylbewerber in die Schweiz zurückbegleiten wollte. Im Tessin wurde die SP-­Politikerin Lisa Bosia Mirra als Schlepperin verurteilt, nachdem sie minderjährige Geflüchtete über die Grenze gebracht hatte. In zahlreichen Ländern Europas wird Solidarität mit Geflüchteten mehr und mehr kriminalisiert. Menschen, die die Grundrechte anderer verteidigen, werden abgeschreckt und abgestraft. Diese Entwicklungen stehen in einem Zusammenhang mit den illegalisierten Fluchtrouten über das Mittelmeer oder in Ost- und Südosteuropa. Und sie haben zu tun damit, dass sich Rechtsstaaten gerade für Geflüchtete mancherorts in Unrechtsstaaten verwandeln: durch Ein- und Ausgrenzungen von Menschen, durch Ausschaffungen und Abschottung gegen aussen sowie durch Abdrängung in Prekarität und Not im Innern. Dagegen begehren Menschen wie Norbert Valley auf. 

Die eine Konsequenz: den Rechtsweg beschreiten, Unrecht denunzieren. Norbert Valley und auch die andern Verurteilten ziehen ihre Urteile weiter. Die grüne Nationalrätin Lisa Mazzone lanciert einen Vorstoss zur Anpassung des Ausländergesetzes, damit Personen, die Hilfe leisten, sich nicht strafbar machen, wenn sie dies aus achtenswerten Gründen tun. Amnesty International startet dazu eine Kampagne, die im internationalen Kontext steht: Der Raum für die Menschenrechte und ihre VerteidigerInnen schrumpft fast überall. 

Es gibt noch eine weitere Option, um die Grundrechte zu stärken: «Ich nehme eine Gefängnisstrafe in Kauf», sagt Norbert Valley. Henry David Thoreau erklärte im 19. Jahrhundert zivilen Ungehorsam so: «Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mache dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.» 

Im Gefängnis begegnen sich dann Kirche und Staat allenfalls wieder. Die eine Variante: Gefängnisseelsorge. Und die andere: Pfarrer in Haft. Das gibt guten Diskussionsstoff.●

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.