Religiös-sozialistische Perspektiven

Matthias Hui, Geneva Moser, 23. August 2024
Neue Wege 5.24

In einer Welt von Krieg und Unrecht in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben religiöse Sozialist*innen versucht, die Utopie des Reiches Gottes aufrechtzuerhalten. Hat diese Geschichte noch Potenzial, auch wenn alte Begriffe nicht mehr passen? Ein Vorschlag für ein paar Perspektiven, die reli­giöse Sozialist*innen heute in die Linke, in die sozialen Bewe­gungen einbringen können.

«Eine allgemeine Krise – ­Katastrophen konvergieren,
verschärfen sich gegenseitig und drohen uns zu verschlingen»

Nancy Fraser

2024. Was sind die Zeichen der Zeit? Wir leben im Anthropozän, sagen die einen. Der Einfluss des Menschen auf den gesamten Planeten ist unübersehbar. Das Antlitz der Erde und die Zusammensetzung der Atmosphäre sind unumkehrbar verändert. Die Klimakatastrophe und der Rückgang der Biodiversität sind da. Wir leben im Kapitalozän, sagen andere. Das menschengeprägte Zeitalter, die Zerstörung ist von politischen und wirtschaftlichen Machtbeziehungen, von Ungleichheiten, kurz: vom globalen Kapitalismus geprägt.
Auf jeden Fall leben wir global in einer Zeit der Katastrophen und Krisen: ökologische Krise, Kriegsregime, soziale Ungleichheiten entlang von Geschlechter- oder rassistischen Linien, Migrationskrise, Care-Krise. Dazu kommen Krisen der demokratischen Institutionen und Angriffe auf das internationale Recht. Die einzelnen Krisen sind ineinander verflochten, sie haben gemeinsame Wurzeln. Die patriarchale Dominanz über andere Geschlechter als das männliche, die anthropozentrische Herrschaft über die Natur, die imperiale Lebensweise und über allem der Kapitalismus, der seine eigenen Grundlagen und alles Leben neben ihm auffrisst – alles eine einzige Krise.

Es gibt viel Unmut, Aufbegehren und Widerstand in der Krise. Die einen suchen autoritäre, faschistische, gewaltsame Befreiungsschläge. Aber es gibt überall auch die queerfeministischen, migrantischen, antirassistischen, ökosozialen Bewegungen auf der Strasse und auf der Suche nach Alternativen. Wenn das Bewusstsein wächst, dass es sich um eine verschränkte grosse Krise handelt, können sich auch die Gegenkräfte stärker verflechten. So entstehen Bündnisse, die die Vielfalt nicht einebnen, sondern pflegen. So wächst Mut zur Kritik am grossen Ganzen der Gesellschaftsordnung. Und Kraft für eine visionäre und radikale ökosoziale Transformation.

Menschen, die sich in den Dienst dieser Umwälzungen stellen, gab und gibt es immer auch im Kontext religiöser Zusammenhänge. Auch wenn religiöse Institutionen in der westlichen Welt derzeit einen enormen Glaubwürdigkeitsverlust erfahren und teilweise implodieren. Existenzielle Fragen zu stellen und das Jetzt nicht als alternativlos zu sehen, ist in Religionstraditionen vielfältig und tief verankert. Wie in einer immer interreligiöseren und gleichzeitig manchenorts postreligiöseren Welt aus diesen Quellen weiter geschöpft werden kann, bleibt eine spannende und offene Frage. Gerade angesichts des scheinbar hoffnungslos übermächtigen, die Menschen atomisierenden und instrumentalisierenden ­Krisen- und Katastrophenkapitalismus. Der 1945 im KZ ermordete deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer hat vom «religionslosen Christen­tum» und von der «nicht-religiösen Interpretation» der theologischen, spirituellen Tradition gesprochen. Diesen Gedanken der «tiefen Diesseitigkeit», der vollen Teilhabe an Gesellschaft und Politik, inspiriert durch Verwurzelung im Glauben an die Welt, die anders werden muss, finden wir in der Tradition des Religiösen Sozialismus wieder. Aus dieser und ihr verwandten Traditionen möchten wir ein paar Perspektiven in die heutigen transformativen Bewegungen und Debatten einbringen. Zunächst aber die Frage: Was ist eigentlich Religiöser Sozialismus?

«Die Botschaft
von dem Reiche Gottes,
das eine Welt der Freude,
der Freiheit und
des Friedens bringen soll»

Leonhard Ragaz

Die Zeitschrift Neue Wege steht in dieser Tradition und prägte sie mit. «Religiöser Sozia­lismus» war immer ein sperriger Begriff, und er bleibt es. Diese Weltsicht ist nicht in einer bestimmten religiösen Institution verwurzelt. Zwar waren seine Begründer*innen evangelisch-­reformiert, allerdings kirchenkritisch, bald aber kamen jüdische und katholische Genoss*innen dazu. Und diese politische Grundhaltung ist auch nicht in einer Partei zu Hause. Zwar waren manche Anhänger*innen links-unorthodoxe Mitglieder der SP. Sie vertraten aber hauptsächlich einen genossenschaftlichen, gewaltfreien, oft auch anarchistisch angehauchten und auch den einzelnen Menschen in den Blick nehmenden Sozialismus – jenseits der mit Gewalt nach der Macht greifenden Kommunistischen Internationalen und der anpasslerischen Sozialdemokratie. Religiöser Sozialismus bleibt auch Religion und Sozialismus gegenüber herrschaftskritisch.

Vor über hundert Jahren, in der Zeit des Ersten Weltkriegs, stellten reformierte Pfarrer den «sozialen Sinn» ins Zentrum ihres Christentums und den «religiösen Sinn» ins Zentrum ihres Sozialismus. Die Verwurzelung im Glauben macht religiöse Sozialist*innen politisch radikaler. Und der politische Kampf eröffnet tiefere Zugänge zu den spirituellen Quellen – religiöse Sozialist*innen sind radikale Sozia­list*innen sind radikale Christ*innen. Sie deuteten die Bibel so, dass die ­kapitalistische Gesellschaftsordnung zugunsten einer gerechteren Verteilung von Gütern, Boden und Recht, eines Endes der Ausbeutung des Menschen und der Schöpfung durch den Menschen und eines weltweiten Friedens überwunden werden sollte – auf den Begriff gebracht in der Chiffre «Reich Gottes». ­Leonhard Ragaz betont in dem 1920 publizierten programmatischen Gemeinschaftswerk Ein sozialistisches Programm die Wurzeln des «Glaubens an das kommende Reich Gottes» in der jüdischen biblischen Tradition: «Dort ist auf die mächtigste Weise der Gedanke einer einheitlichen Menschheit erwacht, die eine einzige Familie wäre, zusammengebunden durch das einheitliche Gesetz der Gerechtigkeit und Güte, und zugleich die Erkenntnis, von dem unbedingten und einzigen Wert jedes Menschen, und zwar ganz besonders des äusserlich Armen und Geringen. […] Der Glaube an ein Reich der sozialen Gerechtigkeit auf Erden, wie auch der, dass dieses Reich getragen werde von der ‹Klasse› der Enterbten und Verachteten, der ‹Proletarier›, stammt aus dieser Welt. […] Hieraus ist […] die hinreissende Hoffnung auf eine bessere Ordnung, die vor uns liege und möglich sei, in die Welt gekommen. Von hier ist, um das zusammenfassende Wort auszusprechen, die Botschaft von dem Reiche Gottes, das eine Erlösung von Schuld und Not zu einer Welt der Freude, der Freiheit und des Friedens, einer Welt Gottes und des Menschen bringen soll, in die Herzen gekommen. Hier liegen, geschichtlich betrachtet, die tiefen, starken Wurzeln, von denen aller Sozia­lismus lebt.»1

Als Gründungsfiguren des Religiösen Sozia­lismus stehen neben Leonhard Ragaz Namen wie Christoph Blumhardt und ­Hermann ­Kutter. In diese Reihe gehören auch Clara Ragaz, Dora Staudinger, Margarete Susman, Helène Monastier und Gertrud Woker, die ihre Expertise in Friedensförderung, Antimilitarismus, Geschlechtergerechtigkeit, Genossen­schaftswesen und utopisch-prophetischem Denken in die religiös-sozialistische Bewegung einbrachten. Der frühere Neue Wege-­Redaktor und SP-Politiker Willy Spieler nannte den Religiösen Sozialismus eine Befreiungstheologie avant la lettre.

In den letzten 120 Jahren wurde die Idee des Religiösen Sozialismus in den Neuen Wegen wie auch in verschiedenen Vereinen und Gruppierungen wachgehalten, weitergedacht und in die jeweilige Gegenwart übersetzt. Neue Themen und Perspektiven kamen hinzu: die jüdische und die christliche Auseinandersetzung mit der Shoa, der Kalte Krieg, Imperialismus und Kolonialismus, die Befreiungstheologien des Globalen Südens, die feministische Theologie oder queere und interreligiöse Perspektiven. Manche Fragen brachten Verwerfungen und Zwist. Abgebrochen ist die Traditionslinie nie. In kritisch-kreativer Weise möchten wir daran anknüpfen und aus dieser Grundhaltung heraus Fragen, Erzählungen und Inspirationen im Kleinen in bestehende linke Politik einbringen. Wir nennen sie hier vorläufig «Perspektiven». Sechs Vorschläge solcher Perspektiven führen wir im Folgenden aus: die der Hoffnung, der widerständigen Mystik, der Gewaltlosigkeit, des Erinnerns, der Beziehungen und der prophetischen Kritik. Die erste dieser Perspektiven, die zur Stärkung heutiger linker Politik beitragen können, ist das beharrliche Erzählen von Hoffnung und Utopie.

«Menschen, die in Formen des Widerstands engagiert sind, haben den Luxus der Hoffnungslosigkeit überwunden»

Dorothee Sölle

Die feministische Autorin Franziska Schutzbach formulierte in den Neuen Wegen unlängst: «Es liegt in unserer Verantwortung, überzeugendere Bilder von Freiheit, Gerechtigkeit und Verbundenheit in Umlauf zu bringen als die Angebote der faschistischen, reaktionären oder religiös-fundamentalistischen Kräfte. Wir dürfen ihnen das Feld der Utopien nicht überlassen. […] Hoffnung ist nichts, was man einfach hat, sondern eine Praxis und eine Fähigkeit, die wir uns immer wieder erarbeiten müssen.»2 In den aktuellen Krisen Hoffnung zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Konkrete, lebensnahe Utopien sind als Kraftstoff für linke Politik aber dringend nötig.

Im Zentrum des Christentums steht der Glaube daran, dass die Zerstörungskraft des Todes nicht das Ende ist: «Auferstehung als Lebensform»3, wie es der Theologe Jürgen Manemann in seinem Buch Revolutionäres Christentum nennt, heisst nicht in erster Linie Hoffnung auf ein individuelles Leben nach dem Tod; es bedeutet, jegliche Komplizenschaft mit dem Tod zu verweigern und gegen die vielen alltäglichen «Tode» – Ungerechtigkeit, Apathie, Resignation – und ihre Zwangsläufigkeiten anzukämpfen. Diese Lebensform «relativiert jedes Ordnungs­gefüge». Sie spürt die Risse in der Gegenwart auf. Sie hält Möglichkeiten offen. Hoffnung ist permanentes Überschreiten, wie der Philosoph Ernst Bloch sagt, ausgerichtet auf das Noch-nicht-Gewordene. Das Aufrechterhalten dieser Auferstehungshoffnung ist Mystik und Widerstand: Sie braucht einerseits das Hinhören in der Stille, die Mystik: Wohin laufen wir, wie fördern wir die für uns Menschen günstigen Möglichkeiten? Denn der Glaube, so übersetzt Jürgen Manemann die christliche in die politische Sprache, «ist keine Utopie, die sich erst einmal die Welt wegwünscht. Im Gegenteil! Sie zielt auf eine andere Welt in dieser Welt.»4 Und Utopie braucht andererseits die aktive Umkehr, das Widerständige – in der christlichen Tradition als Metanoia, in der jüdischen als Teshuwa überliefert –, die Möglichkeit der individuellen und kollektiven Veränderung. So ist diese Auferstehungshoffnung zärtlich hartnäckig, unauffällig alltäglich und kraftvoll wütend.

«Die innere Stimme,
die uns das Einssein,
die gegenseitige Abhängigkeit lehrt und ein nicht-
technokratisches Wissen
von der guten Schöpfung»

Dorothee Sölle

Eine zweite Perspektive, die wir in die Arbeit linker Bewegungen einzubringen versuchen möchten, ist eine mystische: Wir müssen nicht alles machen, die Revolution kommt, wann und wo sie will.

Menschen, die mit vielen kleinen Darlehen ein Haus der Immobilienspekulation entziehen und, genossenschaftlich organisiert, als Kommune leben; die weltweite #MeToo-Bewegung, die eine Diskursverschiebung rund um sexualisierte Gewalt erreicht; das Friedensdorf Newe Shalom/Wahat al-Salam, wo seit fünfzig Jahren Zusammenleben zwischen palästinensischen und jüdischen Menschen in Israel eingeübt und praktiziert wird; die Klimaseniorinnen, die mit ihrer Klage einen Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verbuchen; dieser Moment, wenn im Juni 2021 am feministischen Streik plötzlich eine halbe Million FLINTA*5 auf den Schweizer Strassen unter dem Motto «Lohn. Zeit. Respekt» für ihre Rechte kämpfen.

Einschneidende Ereignisse, Erfahrungen spontanen Glücks, magische, ja mystische Momente. Natürlich, hinter solchen Beispielen stehen oft jahrelange Arbeit, grosses Wissen, weite Netzwerke, grosser Mut, viel Wut und Schmerz. Aber: Spielt da nicht auch ein Funken von unerklärbarer Kraft mit? Von Gelingen trotz aller Kontingenz, von Erfolg jenseits der Machbarkeit, von der Gunst der Stunde, in christlicher Sprache: von Gnade?

Für die widerständige Theologin ­Dorothee Sölle sind zwei Traditionen zentral, die «Christen und Juden in den Menschheitstraum von einem neuen Morgen» einbringen können6: Die erste ist das «Trotz alledem» des jüdischen Glaubens, das – trotz Vernichtung und Exil – die Widerstandstradition der Bibel begründet hat, das hartnäckige und zärtliche Festhalten des Menschen am verborgenen Gott und an seiner Gerechtigkeit. Sölle kommt diesem befreienden jüdischen Gott und auch dem «jüdischen Proletarier» Jesus, «der als messianischer Prophet und Lehrer der Gerechtigkeit Opfer des römischen Imperiums – und seitdem jedes Imperiums – wurde», bei ihrem Versuch, «nach Auschwitz» von Gott zu sprechen, auf die Spur.

Die zweite Tradition ist die der Mystik, die Sölle mit Wahrheitssucher*innen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen verbindet. Mystische Erfahrung geschieht für sie nicht in erster Linie beim Rückzug ins Gebetskämmerchen der Innerlichkeit. Die Rettung der Welt überlässt sie nicht einem allmächtigen Gott: Gott hat «keine anderen Hände als unsere». Die mystische Erfahrung, auch die mystische Erfahrung des Widerstands, kann nicht herbeigeführt, hergestellt, gemacht werden. Sie stellt sich mit dem Loslassen ein. Sie geschieht.

«Die Beseitigung des Krieges
ist die Krönung des Werkes,
das der Sozialismus zu tun hat»

Leonhard Ragaz

Eine dritte Perspektive und Traditionslinie aus dem Religiösen Sozialismus, die in der aktuellen linken Politik massiv zu kurz kommt, ist die Gewaltfreiheit. Politik wird zerstörerisch, wenn ihre Mittel nicht mit den radikalen Veränderungen, die sie zum Ziel hat, übereinstimmen. Allerdings sind auch hier Bescheidenheit und Selbstkritik angesagt: Gerade religiöse und sozialistische Bewegungen sind für unglaublich viel Gewalt und Leiden verantwortlich.

Bewegungen und Staaten, die individuelle Menschenrechte beschneiden und die Einschränkung von Meinungs- und Religionsfreiheit, von Zensur oder sogar von Folter im Namen von Sicherheit und einer besseren Zukunft le­gitimieren, zerstören ihr eigenes Fundament. Linke Strukturen, die nicht ein füreinander sorgendes, die Vielfalt pflegendes, voneinander lernendes und auch im Kleinen solidarisches Miteinander aufbauen, sind im eigentlichen Sinn keine linken Strukturen. Menschen, die für das bedrohte Leben kämpfen, brauchen Zeit, dieses Leben auch zu geniessen. In politischen Projekten und in Beziehungen unter Aktivist*innen soll schon jetzt spürbar werden, was das Ziel ist: Alle Menschen haben die gleiche Würde; Beziehungen sind verlässlich und frei, auch von Herrschaft; in Entscheide werden alle einbezogen; die Schöpfung und darin eingebettet unsere Lebensgeschichten sind schön in ihrer ganzen Begrenztheit und Verletzlichkeit.

Und schliesslich: Jede*r Gegner*in, jeder Feind ist auch ein Mensch, religiös gedacht: ein Geschöpf Gottes. An diesem Punkt wird besonders deutlich, dass Politik auf dem Holzweg ist, wenn sie 2024 primär auf Gewalt setzt, auf Militarisierung und Aufrüstung, und damit gewaltfreie Konfliktlösungen und Pazifismus der Lächerlichkeit preisgibt. Ein sozia­listisches Programm dazu: «Ein sozialistischer Militarismus ist sozialistischer Verrat. Forderung eines Sozialismus, der sich selbst treu bleibt, ist die allgemeine und vollständige Abrüstung. […] Die Beseitigung des Krieges ist die Krönung des Werkes, das der Sozialismus zu tun hat.»7 Es geht dabei nicht um die Aufrechterhaltung der reinen Ideologie. Es geht um die Gesamtperspektive Gewaltfreiheit, um die Überwindung von Gewaltverhältnissen, Militarismus und Krieg. Die Diskussion und Legitimation von Notwehr, in denen ein Staat, eine Gruppe, ein Individuum auch mit Gewalt gegen Aggression vorgeht, soll die gewaltfreie Grundhaltung nicht untergraben und darf kein zynisches Menschenbild befördern, wonach Gewalt nur mit Gegengewalt und Krieg nur mit Aufrüstung bekämpft werden könne. Gerechte Verhältnisse, internationales Recht, Menschlichkeit und die Bereitschaft zur Versöhnung schaffen Frieden.

«Trauer ist die fundamentale Widerstandskategorie»

Jürgen Manemann

Eine vierte, vielleicht ungewohnte Perspektive, die wir stärker in linke Politik einbringen möchten, ist das Erinnern an das Scheitern und das Weitererzählen von Momenten geglückter Revolte.

Die Geschichte von Bewegungen – in sozialistischen, kommunistischen, anarchistischen, feministischen und vielen anderen Traditionen –, die antraten, um den Mächtigen Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung abzutrotzen, ist voller Niederlagen. Unvorstellbar viele Menschen bezahlten den Widerstand für das Leben mit ihrem eigenen Leben. Sie alle bilden eine lange Kette des Scheiterns. Den Mächtigen gelang es immer wieder, das kapitalistische gesellschaftliche System auf eine Weise anzupassen, dass es für (zu) viele Menschen kurzzeitig wieder attraktiv war und ist oder sogar alternativlos erscheint.

Erinnert werden muss viel Leid, Schmerz, Zerstörung und Tod. «Für ein revolutionäres Christentum ist Trauer die fundamentale Widerstandskategorie»8 (Jürgen Manemann). Trauer auch um unbekannte, namenlose Menschen, Opfer von Kriegen, Gewalt und Repression, von Ausbeutung und Flucht; Trauer auch um vernutztes und zerstörtes nichtmenschliches Leben. In allen religiösen Traditionen sind reiche Erinnerungskulturen mit subversivem Potenzial für die Gegenwart beheimatet. Die Verstorbenen, die Umgekommenen, die Umgebrachten sind Teil unseres Lebens – «presente!», wie es in Lateinamerika heisst. Das Erinnern an den Auszug aus Ägypten, an die Befreiung – auch der Schöpfung – und das Bekräftigen dieser Hoffnung auf Zukunft gibt emanzipatorischen Bewegungen Energie. Der Glaube, dass die Zerstörungskraft des Todes nicht das Ende ist in diesem Leben auf Erden, ist Kern der jesuanischen Botschaft.

Nicht die Geschichte der Sieger zählt. Gemeinsam gepflegte Formen der Trauer und Momente der Erinnerung können zu kollektiver Kraft werden, Protest und Revolte nähren. Momente erstrittenen und zugefallenen Glücks, Entwicklungen verbindlicher Solidarität, Durchbrüche zu menschenfreundlicheren Ordnungen sollten weitererzählt werden: Dazu zählen die Visionen von Freiheit und Gleichheit der Bauern und Bäuerinnen in Mitteleuropa 1525. Der Sklavenaufstand 1791, der zur Revolution und Unabhängigkeit von Haiti führte. Der Aufbruch 1968 in Paris, Prag und anderswo. Die sandinistische Revolution von 1979 in Nicaragua. Oder die grossen Bewegungen auf der Strasse vor Corona – Black Lives Matter, Klimastreiks, feministische Streiks. Auch wenn die subjektive Erfahrung oft eine andere ist: Aus jedem solcher historischen Ereignisse und Umbrüche entstehen emanzipatorische Strukturen, Institutionen und Beziehungen, die den Moment überdauern oder erst sehr viel später zum Durchbruch gelangen.

«Auch die menschliche Liebe
ist ein schwacher
Schimmer der Ewigkeit»

Ernesto Cardenal

Eine fünfte Perspektive, die wir für emanzipatorische politische Arbeit als essenziell erachten, ist jene der «Beziehungsweisen» (Bini Adamczak).

Wenn politische Kräfte die Familie, die intimen Nahbeziehungen als «Grundstein» der Gesellschaft bezeichnen und dazu aufrufen, sie «heilig zu halten, zu fördern und zu schützen», wie es Ein sozialistisches Programm im Jahr 1920 formuliert, klingt das aus heutiger linker, feministischer, queerer Perspektive eher bedrohlich als emanzipatorisch. Für die politische Rechte bedeutet die Förderung von Familie die Eindämmung der Rechte von ­LGBTIQ+ und die Verfestigung von hierarchischen Geschlechterverhältnissen. «Familie» wird bis heute weitgehend heteronormativ und patriarchal verstanden. Das Familienbild ist – wenn auch weniger explizit als noch vor hundert Jahren – dies: Mann, Frau und Kinder, Familienoberhaupt und Besitztümer. «Familie» und «Ehe» werden als getrennt von der öffentlichen Sphäre verstanden und als deren Gegenpol inszeniert. «Familie» und ihre Zumutungen, ihre Gewalt und ihre Zwänge waren und sind deshalb immer wieder Gegenstand linker Kritik. Auch im Religiösen Sozialismus.

Ein Sozialistisches Programm nimmt nicht nur die Wirtschaftsweise und die politischen Strukturen als solche in den Blick, sondern versteht, wie einerseits auch diese als Beziehungen gestaltet sind und dass andererseits die Gestaltung von Beziehungen politisch relevant ist. Damit hebt es die vermeintliche Grenze zwischen privaten Beziehungen und dem politischen Öffentlichen auf: Der «Familienegoismus» soll einem «Sinn der grösseren Gemeinschaft» Platz machen. Der Kapitalismus zerstöre die Beziehungen, der Mensch bleibe «allein», solange er beherrsche und unterdrücke.

Gesellschaftliche Veränderung muss im Alltag ansetzen: Intime Beziehungen sind politische Praxis im Kleinen, die einen permanenten Gerechtigkeitscheck brauchen. Die emanzipatorischen Werte, die das Sozia­­listische Programm als Vision für die intimen, familiären Beziehungen formuliert, sind ungebrochen relevant: Freiheit, Ebenbürtigkeit, Selbstbestimmung, Verantwortlichkeit, In-sich-selber-Ruhen. Beziehungen, gerade auch jene unter gemeinsam politisch Kämpfenden, sollen Orte sein, in denen das Reich Gottes aufflackert und die so den Boden für Veränderungen bilden. Die Utopie ist nicht in einen fernen Himmel, einen postrevolu­tionären Zustand vertagt, sondern wir lieben, begehren, kümmern, sorgen, nähren, streiten, schlichten jetzt. Wo Liebe, Freundschaft, Solidarität – auch nur bruchstückhaft und in Widersprüchen – konkret gelebt werden, öffnet sich diese Welt auf das hin, was sein könnte: eine gerechte, liebevolle und versöhnte Welt. Diesen Horizont zu öffnen und einen Geschmack dessen zu erleben, was als «gut» bezeichnet werden könnte, steht im Zentrum des Glaubens an den biblischen Gott. Und im Zentrum guter linker Politik.

«Der apokalyptische Auftrag: Sag’, was an der Zeit ist, und zwar schonungslos»

Jürgen Manemann

Eine letzte Perspektive, ein sechster Versuch, Religiösen Sozialismus kreativ in heutige linke Politik einzubringen, ist die prophetische und die apokalyptische Kritik.

Krisen und Katastrophen liegen offen da, werden aber von vielen, auch fortschrittlichen Menschen, nicht bis ins Detail und in ihren Zusammenhängen verstanden oder in ihrer ganzen Dramatik und Zerstörungskraft benannt. Radikale prophetische Kritik hat den Mut, das grosse Ganze, das System, das sich ja gerade in der Vielfachkrise als zusammenhängend entpuppt, in den Blick zu nehmen und zu kritisieren. Radikale prophetische Kritik, auch im biblischen Sinn, wagt es, sich den Umsturz der Verhältnisse vorzustellen. Prophetische Kritik geschieht nicht aus akademischer, komfortabler Distanz, sie wird aus der Perspektive der Leidenden, der Kämpfenden, der Verwundeten, der (Ver-)Zweifelnden formuliert. Sie mischt sich ein, sie riskiert viel. Sie hinterfragt immer auch den eigenen Ort, die eigenen blinden Flecken. Kritik ist stets Selbstkritik. Prophetische Kritik spricht aus Ohnmacht und zielt nicht auf Macht. Es geht ihr weniger um ein hellsichtiges «Vorhersagen» der Zukunft als um die Fähigkeit, «hervorzusagen», auf den Begriff zu bringen, beim Namen zu nennen.

Das will im besten Sinne auch die «apokalyptische» religiöse Tradition: enthüllen, entlarven, offenlegen. Jürgen Manemann bringt es auf den Punkt: «Der apokalyptische Auftrag lautet: Sag’, was an der Zeit ist, und zwar schonungslos.»9 Und die Philosophin Eva von Redecker meint: «Die einzige Perspektive, aus der man hoffen kann, im Angesicht der Katastrophe Orientierung zu gewinnen, ist die, die erkennt, dass die Katastrophe schon da ist.»10 Wenn die Logik des Systems in der heute herrschenden apokalyptischen Grundstimmung entlarvt werden kann, können Menschen, die unter die Räder geraten, wieder Mut fassen und Hoffnung schöpfen.

Die alten Erzählungen, die Grundlagen der religiösen und politischen Traditionen, in denen wir stehen, müssen in kritischer Auseinandersetzung in die Gegenwart und ihre politischen Auseinandersetzungen übersetzt werden, damit sie ihre alte Aussagekraft behalten. In Ein sozialistisches Programm heisst es: «Nicht wir freilich sind es, die diese Revolution machen; dieser Grössenwahn liegt uns ferne; aber wir glauben an sie; wir halten sie für die in tieferem Sinn einzig mögliche […]. Wir aber stellen uns bescheiden in ihren Dienst und wollen nicht nur in froher, vielleicht berauschender, Erhebung der Seele an sie glauben, sondern auch geduldig und nüchtern und, wenn es sein muss, im Kleinen und Kleinsten für sie arbeiten – alles so gut wir’s können und verstehen.»11

  1. Max Gerber, Jean Matthieu, Clara und Leonhard ­Ragaz, Dora Staudinger: Ein sozialistisches ­Programm. Olten 1920, S. 31.

  2. Das Utopische im Gegenwärtigen erkennen. Neue Wege-­Gespräch mit Franziska Schutzbach von ­Geneva ­Moser und Matthias Hui. In: Neue Wege 5.24, S. 20.

  3. Jürgen Manemann: Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer. Bielefeld 2021, S. 25.

  4. Ebd, S. 58.

  5. Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen

  6. So ihre Biografin Renate Wind in: Dorothee Sölle – Rebellin und Mystikerin. Die Biographie. Stuttgart 2008.

  7. Ein sozialistisches Programm (Anm. 1), S. 135.

  8. Jürgen Manemann (Anm. 3), S. 41.

  9. Ebd., S. 61.

  10. Eva von Redecker: Revolution für das Leben. ­Frankfurt a. M. 2020, S. 109.

  11. Ein sozialistisches Programm (Anm. 1), S. 17.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.