Der ultrarechte US-Influencer und Politaktivist Charlie Kirk wurde schon kurz nach seiner Ermordung im September 2025 unverfroren mit Jesus Christus verglichen, so von Trumps rechtskatholischem Vizepräsidenten J. D. Vance. Wenige Tage bevor er ermordet wurde, schrieb Kirk an den israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu: «Eine meiner grössten Freuden als Christ ist es, […] Bündnisse zu schmieden, um die jüdisch-christliche Zivilisation zu verteidigen.» Netanyahu betrauerte Kirk denn auch öffentlich als «Verteidiger der gemeinsamen jüdisch-christlichen Zivilisation».
Das Konzept der jüdisch-christlichen Allianz für eine gemeinsame Zivilisation fand erst Anfang der 1980er Jahre Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch Europas, in den USA schon früher. Hintergrund war die – sehr späte – gesellschaftliche Bewusstwerdung des Naziterrors und der kollektiven Verantwortung für die Shoah. «Westliche Werte» sollten wiederhergestellt und europäische Schuld gesühnt werden. Die französisch-tunesische Historikerin Sophie Bessis zeigt in La civilisation judéo-chrétienne : anatomie d’une imposture (2025) die Struktur dieses «Betrugs» am eigenen antisemitischen Erbe auf. Seit dem 11. September 2001 wird der Begriff definitiv von der (religiösen) Rechten und rechtsextremen Meinungsführer*innen besetzt. In ihrem Grundsatz von 2016 erklärt die AfD, sie trete einer «islamischen Glaubenspraxis» entgegen, die sich «gegen [...] die jüdisch-christlichen und humanistischen Grundlagen unserer Kultur» richte.
Was hat es mit dieser Rede von der «jüdisch-christlichen Zivilisation» genau auf sich? Die christliche, europäische Zivilisation wird durch den vereinnahmenden Einbezug des Judentums von ihrer Verantwortung für den Antisemitismus und für die Shoah freigesprochen. Fern sei die Ahnung, dass die Verfolgung jüdischer Menschen zum Kernbestand dieser Zivilisation gehören könnte. So formulierten es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung: «Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation.» Das neue Mantra der «jüdisch-christlichen Zivilisation» entbindet nun alle, die sich ihr anschliessen, von der Auseinandersetzung mit Antisemitismus in den eigenen biografischen, historischen, gesellschaftlichen und auch kirchlichen und theologischen Verhältnissen. Antisemitismus ist immer der der anderen. Jüdische Kommentator*innen weisen auf antisemitische Verschwörungstheorien bei Charlie Kirk hin, wenn er behauptet, gerade Jüdinnen und Juden hätten den Antisemitismus in den USA durch die Unterstützung liberaler Anliegen finanziert und so den sogenannten Kulturmarxismus gefördert. Nicht nur bei Kirk ist Philosemitismus bisweilen nur schwach kaschierter Antisemitismus.
Über Jahrhunderte blieb das Judentum in Europa als Fremdkörper orientalischer Herkunft stigmatisiert und verfolgt. Die plötzliche Berufung auf die «jüdisch-christliche Zivilisation» in den letzten Jahrzehnten verschiebt nun, zum Zweiten, sehr bewusst die trennscharfe Linie der Ausgrenzung. Der einflussreiche rechtskonservativ-jüdische Politkommentator Josh Hammer nennt «Charlie» einen «Fünf-Sterne-General in unserem grossen Clash der Zivilisationen», einen «Champion der jüdisch-christlichen Koalition zur Rettung der westlichen Zivilisation vor den Kräften der Barbarei und des Islamismus, die uns alle unterwerfen wollen». Das Bündnis zweier abrahamitischer Religionen ist gegen die dritte gerichtet. Die Geschichte des Islams und die muslimischen Lebenswelten der Gegenwart sollen nichts mit der eigenen Erzählung zu tun haben. Auch wenn die historischen Fakten zum Monotheismus und zu Europa dagegensprechen.
Zum Dritten geht es bei der Formel «jüdisch-christliche Zivilisation» um die imperiale Weltordnung: Die «jüdisch-christliche Zivilisation» steht im Krieg mit ihren Feinden. Israel macht konkret vor, was das heisst. Charlie Kirk beginnt seinen Brief an Netanyahu damit, dass es eine seiner grössten Freuden als Christ sei, in der Öffentlichkeit für Israel zu kämpfen. Gegenüber den Muslim*innen, gegenüber den Palästinenser*innen muss die «Zivilisation» um jeden Preis verteidigt werden. Damit wird in vermeintlich postkolonialen Zeiten der (israelische) Siedlerkolonialismus zu einem jüdisch-christlichen Projekt. Hier eröffnen sich mit Trumps hegemonialem Friedensplan für Israel und arabische Staaten Widersprüche.
Aus dem Bündnis für die jüdisch-christliche Zivilisation sind nicht nur die Muslim*innen ausgeschlossen, die Atheist*innen und Anhänger*innen anderer Religionen, sondern auch alle jüdischen und christlichen Menschen, die sich gegen imperiale Macht, Gewalt und Genozid wehren. Beim Zauberspruch der «jüdisch-christlichen Zivilisation» handelt es sich um die totale Verkehrung der religiösen Traditionen, auf die man sich beruft. Wenn es in der jüdisch-christlichen Überlieferung etwas wie durchgehende rote Fäden gibt, sind es Themen wie die Erinnerung an die Befreiung aus Unterdrückung, Gottes Präsenz bei den Leidenden und Ohnmächtigen, die Verheissung von Gerechtigkeit und der Glaube an die Überwindung der Macht des Todes und seiner Götzen.
Der gemeinsame Boden für das religiöse Gespräch war nach der Shoah dünn. 1947 ergründeten 65 jüdische und christliche Teilnehmer*innen aus 19 Ländern in Seelisberg die christlichen Ursachen des Antisemitismus. Die Konferenz gilt als Geburtsstunde der christlich-jüdischen Zusammenarbeit. Die christlichen Beteiligten hoben in zehn Thesen unter anderem hervor, dass «ein und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht». Clara Ragaz nahm an dieser Konferenz teil. Die Menschen rund um unsere Zeitschrift Neue Wege leisteten grosse Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch. Leonhard Ragaz und Martin Buber waren schon ab den 1920er Jahren voneinander berührt; jüdisch-christlicher Dialog war für sie eingebettet in die gemeinsame prophetische Vision einer gerechten Gesellschaft. Margarete Susman beteiligte sich im November 1945 in einer Gruppe von Christ*innen und Juden*Jüdinnen an einer Studienwoche in Walzenhausen. Die dort verabschiedete Erklärung wurde zum Gründungsdokument der späteren Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz. Heute streiten allerdings manche in dieser Tradition stehende Organisationen mit Argumenten, die für das Narrativ der «jüdisch-christlichen Zivilisation» charakteristisch sind. Antisemitismus wird hauptsächlich in israelkritischen Kreisen gewittert, eine Distanzierung von israelischer Politik, die Apartheid und Genozid miteinschliesst, erfolgt kaum.
Die Rede von der «jüdisch-christlichen Zivilisation» dient dem Imperium zur Inszenierung der eigenen Macht. Die Herrschenden führen das jüdisch-christliche Zivilisationstheater auf. Der Autor Max Czollek hat für Deutschland den Begriff des Versöhnungstheaters geprägt. «Im Versöhnungstheater ist das Aussöhnen mit der deutschen Vergangenheit und ihren Opfern bereits als vollendete Tatsache vorausgesetzt.» Das jüdisch-christliche Zivilisationstheater baut global auf dieser scheinbar hinter sich gebrachten Versöhnung nach der Shoah und erfolgreichen Normalisierung auf. Es wird mit Pomp und Macht aufgeführt. Aber in den Erzählungen der jüdischen und christlichen Tradition steht der Kaiser nackt da.