Frühmorgens, ich schlafe noch halb, spült mir Instagram ein Video vor die Augen: Eine Jungpartei im rechten Flügel nutzt die Pride in St. Gallen für ihren Wahlkampf. Während knapp zwei Minuten werden friedlich demonstrierende LGBTIQ+ vorgeführt und lächerlich gemacht, flankiert von Begriffen wie «krank», «Woke-Wahnsinn», «dekadent» und «gesellschaftlicher Untergang». Alles vermutlich gerade noch so, dass es nicht justiziabel ist, der Hass und die Herablassung aber unmissverständlich. Auffällig dabei ist, dass die Rhetorik sich nahtlos in jene einreihen lässt, die der Rechtspopulismus international bespielt. Hass ist offenkundig sagbar, lesbar und hat ein Publikum. Ich bleibe liegen und frage mich, ob ich in der Logik dieser Jungpartei schon dekadent und krank bin, weil ich die Person, die neben mir liegt, liebe und begehre. Oder ob ich es erst dann bin, wenn ich das öffentlich sage (so wie jetzt hier). Oder erst dann, wenn ich an der Pride auf die Strasse gehe, das Leben feiere und damit daran erinnere, dass Menschen wie ich und meine Freund*innen vor achtzig Jahren in unserem Nachbarland verfolgt und getötet wurden. Und dass Menschen wie ich in zwölf Staaten dieser Welt weiterhin verfolgt und getötet werden …
Ich höre die Nachrichten, wie jeden Morgen. In Deutschland bespricht die Regierung heute das «Selbstbestimmungsgesetz». Es soll, wie in der Schweiz seit 2022 ebenfalls möglich, eine unbürokratische Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrages sicherstellen. Was bisher in aufwendigen, belastenden und kostspieligen Verfahren medizinisch und juristisch erkämpft werden musste, soll nun beim Standesamt in wenigen Schritten möglich sein. Eine längst fällige Anpassung der Gesetzeslage und der Menschenrechtssituation von trans Personen. Der deutsche Gesetzesentwurf beinhaltet allerdings weiterhin Hürden: Die Anmeldung einer Änderung muss drei Monate im Voraus erfolgen, und nach einer Änderung gibt es eine Sperrfrist von einem Jahr, bevor eine erneute Änderung erfolgen könnte. Diese Absätze zeugen von einer Stimmung des Misstrauens gegenüber transgeschlechtlichen Personen. Dabei ist klar, dass kaum jemand den Weg einer Transition unüberlegt und quasi «spontan» geht – zu gross ist die Belastung durch gesellschaftliche Ablehnung. Und statistisch gibt es kaum Rückänderungen eines Geschlechtseintrages. Die vielen Einschränkungen und Relativierungen, die den Gesetzesentwurf nun prägen, sind nicht in erster Linie dazu da, reale Probleme zu lösen – sie sind vielmehr Zugeständnisse an die ideologischen Gegner*innen geschlechtlicher Freiheit, ausgetragen auf dem Rücken von Betroffenen, so formuliert es die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp auf Instagram treffend. Und hier in der Schweiz? Das Verfahren zur Geschlechtseintragsänderung ist zwar standesamtlich und basierend auf Selbstdeklaration möglich, aber die Option eines nichtbinären Geschlechtseintrages fehlt beispielsweise völlig, im Gegensatz zu unseren Nachbarländern.
Am Nachmittag berichtet mir eine mir nahestehende Person von einer Beratung auf einer Fachstelle für trans Personen. Sie strahlt, scheint um einige Zentimeter gewachsen. Die Beratungsperson hat nicht nur empathisch, aufmerksam und wohlwollend zugehört, sondern auch eine ganze Fülle an Informationsmaterial abgegeben: Internetseiten, Broschüren über die Rechtssituation von LGBTIQ+ in der Schweiz, Anlaufstellen, Stammtische, medizinische Fachleute … Die Beratung ist kostenlos und niederschwellig zugänglich. Keine Selbstverständlichkeit.
Am Abend gehe ich ins Kino. Gemeinsam mit queeren Freund*innen schaue ich mir Orlando, meine politische Biografie von Paul B. Preciado an. Preciado, spanischer Philosoph und trans Aktivist der Gegenwart, schreibt einen filmischen Brief an Virginia Woolf, Schriftstellerin des frühen 20. Jahrhunderts, und sagt: Die Welt ist voll von Orlandos, dein Buch ist wahr! Mit dem queeren Schlüsseltext Orlando. Eine Biografie schuf Virginia Woolf vor rund hundert Jahren eine fiktive Biografie ihrer Partnerin. Die aristokratische Hauptfigur Orlando lebt mehrere Jahrhunderte und wechselt über Nacht das Geschlecht. Preciado lässt in seinem Film zahlreiche trans und nichtbinäre Menschen zu Wort kommen – «Ich bin Viktor und spiele in diesem Film Orlando» – und verwebt auf spielerische und intelligente Weise diese Romanvorlage mit der eigenen Geschichte, Fiktion mit Autobiografie, politische Kritik mit persönlicher Erzählung, Trash mit Drag, Regie mit Erzählerposition, Ironie mit historischer Forschung, Halskrause mit Sneakers. Es ist ein wunderbarer Film: poetisch, vergnügt, klug und stark. Ein Film voller Gender-Poet*innen, kraftvoll und frei.
Müde fahre ich nach Hause. Die deutsche Regierung hat das Selbstbestimmungsgesetz angenommen. Die Protagonist*innen des Orlando-Films existieren vor dem Schweizer Gesetz nicht. Und ich versuche, mir von Hassrhetoriken nicht den Schlaf rauben zu lassen.●