NW: Eva von Redecker, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Revolution. Es geht Ihnen um das Aufbegehren gegen «die kapitalistische Sachherrschaft»: Das Kapital hat eine Verfügungshoheit über alles und sogar eine Lizenz zum Zerstören. In gesellschaftlichen Zwischenräumen sei die Vorwegnahme einer anderen Ordnung bereits angebrochen, beobachten Sie. Diesen Prozess nennen Sie in Ihrem Buch Revolution für das Leben. Stehen wir wirklich mitten in einer Revolution, auch wenn die Welt um uns herum nicht gerade danach aussieht?
EvR: Ja, das tun wir, aber Revolutionen können natürlich scheitern, versanden oder niedergeschlagen werden. Beim Aufstand gegen die Sachherrschaft handelt es sich um ein weitreichendes politisches Projekt, sogar um eines, das unseren gewohnten Rahmen von Politik überschreitet. Wir sehen an vielen Punkten unserer Gesellschaft eine Verweigerung hergebrachter Herrschaft. Ein geradezu unbändiges Beharren darauf, bestimmte Gewalt auszusetzen, etwa die der rassistischen Degradierung, der patriarchalen Verfügung, der Vernutzung lebendiger Natur und auch unserer eigenen Lebenszeit in unermüdlicher Arbeit. Diese Bewegung für das Leben vermag derzeit auf der allgemeinen Ebene wenig auszurichten. Aber wenn man eines lernen kann aus der Geschichte radikalen Wandels, dann, dass es oft vor dem Sturm auch viel Ruhe gibt.
NW: Revolution ist für Sie kein Bruch mit allem Bestehenden, kein Kipppunkt, dem dann ein plötzlicher Neuanfang folgt. Ihre Konzeption von Revolution hat Wurzeln in Ihrer Beschäftigung mit deutsch-jüdischen Anarchisten wie Gustav Landauer und Martin Buber Anfang des 20. Jahrhunderts: Revolution als Exodus, als Weg der Befreiung. In einem Beitrag über Gustav Landauer zitieren Sie dessen intellektuelles Gegenüber Margarete Susman. Sie sehe die existenzielle Entscheidung des Revolutionärs in der jüdisch-messianischen Tradition so: «Und diese einzige Frage, die von dem himmlischen Richter an eine Seele, die vor ihn tritt, gestellt wird, lautet nach dem Talmud: ‹Hast Du gehofft auf das Heil?›» Weshalb brauchen Revolutionär*innen Hoffnung? Zählen nicht allein handfeste Veränderungen, die Umkrempelung der Verhältnisse?
EvR: Die Gegenüberstellung von Hoffnung und Praxis leuchtet mir nicht ein. Revolutionäres Handeln ist immer Handeln im Konjunktiv: weil man sich vorstellen kann, dass es anders sein könnte. «Anders» muss nicht mehr heissen als: «Nicht länger so». Aber selbst um diese Negation vorbringen zu können, braucht es eine Ahnung der Alternative. Die Ahnung einer besseren Welt ist etwas anderes als Zuversicht oder gar Siegesgewissheit. Das Vertrauen auf diese kontrafaktische Sehnsucht würde ich Hoffnung nennen.
NW: Woher soll denn heute, in einer Lage, die für viele Menschen keine Aussicht auf Zukunft mehr ermöglicht, Hoffnung kommen?
EvR: Ich denke sowieso nicht, dass Hoffnung aus der Zukunft kommt. Beim Prosperitätsglauben ist das vielleicht so, aber der ist ja alles andere als revolutionär. Um revolutionäre Hoffnung zu schöpfen, reicht das Vorbild der Kämpfe der Vergangenheit. Das gerade ist doch die grösste Stärke der Linken: dass man sich wünschen kann, auf der unterlegenen Seite gewesen zu sein, weil man eben weiss, dass das die richtige war. Wir wären lieber Pariser Kommunard*innen gewesen als preussische Kanoniere. Und um vom Präsens zu sprechen: Ich bin mir sicher, dass Menschen in sozialen Bewegungen, aber auch in alltäglichen Beziehungen sehr tiefgreifende Erfahrungen machen, Erfahrungen mit Solidarität, mit Gewaltverzicht, mit neuen Freiheiten. Die können ein Rückgrat bilden im Kampf um andere Verhältnisse insgesamt.
NW: Wo konkret beobachten oder teilen Sie in der Gegenwart solche Erfahrungen?
EvR: In Revolution für das Leben sichte ich bestimmte «Gesten» gegenwärtiger Proteste. Die Black-Lives-Matter-Bewegung etwa führt eindrücklich die Verpflichtung zum Retten von Staatsgewalt bedrohter und rassistisch degradierter Leben vor Augen. Im Zuge der grossen Proteste im Jahre 2020 gab es aber auch viele kleine Beispiele, die das Hoffen lehren. Etwa die Verwandlung des Sheraton-Hotel in Minneapolis, das für einige Wochen besetzt und zum «Share-a-Ton» wurde. Eine kollektiv organisierte Unterkunft für alle, die Obdach oder kurzen Rückzug brauchten, mit Gesundheitszentrum, Umsonstladen, Wäscherei und natürlich vielen Plena. Ich bin auch zutiefst beeindruckt von der demokratischen Selbstverwaltung in Rojava. Ich glaube aber nicht, dass Hoffnung übertragbar ist, im Sinne von: «Schau hier, da geht doch was.» Zumal sie ja immer notwendiger wird, desto weniger positive Anhaltspunkte sich finden. In meinem eigenen, weit weniger engagierten Leben sind es oft die Momente, wo sich aus gemeinsamer, oft zäher und verfahrener Diskussion plötzlich ein Einvernehmen ergibt und dann eine Tatkraft entsteht, die immer ein bisschen wie ein Wunder wirkt. Weil sie nämlich nicht nur die einzelne eigene Kraft übersteigt, sondern auch die Handlungsfähigkeit eines bloss äusserlich dirigierten Kollektivs.
NW In Ihrem Buch erwähnen Sie die jüdisch-anarchistisch-messianische Tradition nicht mehr. Knüpfen Sie nicht mehr daran an, weil Sie Missverständnisse bei der Verwendung religiöser Chiffren befürchten?
EvR: Kürzlich sagte jemand zu mir, das vorige Buch Praxis und Revolution, das ja stark von Landauer inspiriert ist, sei das säkularste Buch, was er je gelesen habe. Das gefiel mir. Ich verstehe das so, dass ich noch der messianischen Heilserwartung im Namen des Exodus eine Absage erteile. «Auf das Heil hoffen» darf in meinen Augen nicht heissen, auf eine äussere und damit immer mit der Apokalypse verschwisterte Erlösung zu warten. Es muss heissen, dass man sich die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass alles gut werden könnte, vorzustellen wagt, und dann beginnt, aus der, gemessen an diesem Massstab unerträglichen, Gegenwart auszubrechen. Diese Diskrepanz zwischen Realität und besserer Möglichkeit ist, was Margarete Susman das «Gericht» der messianischen Friedensidee nennt. Susman ist selbst eine Theoretikerin des Exodus, wenn sie zum Beispiel schreibt: «Die messianische Hoffnung aber fordert uns nicht als abstrakte Wesen, sie fordert uns selbst: die wirklichen realen, geschichtlichen Menschen. Vermöchten wir nicht uns selbst, unser Jetzt und Hier in die Hoffnung hineinzuführen, sie wäre nicht unsere Hoffnung. Und damit wäre sie das reine Nichts. Denn es gibt keine andere Hoffnung als die unsere.»
NW: Sie sehen die Bewegung der Revolution für das Leben in einer ganzheitlichen Perspektive: «Ganz neue Kontaktpunkte, zarte Zusammenhänge, zukunftsträchtige Wechselwirkungen eines unendlich vielschichtig Verbundenen» (Revolution für das Leben, S. 123). Alle Kämpfe haben mit allen anderen zu tun. Sie sprechen auch von Weltverwobenheit und Weltliebe, von Wiederannahme von Welt. Wohnt der glückenden Revolution fast zwangsläufig eine Mystik inne?
EvR: Ich glaube, die glückende Revolution bräuchte gerade keine Mystik mehr. Sie würde überwältigende Gefühle von Freiheit, Zärtlichkeit, Verbundenheit mit sich bringen, aber das würde ich nicht Mystik nennen, denn es läge ja offen zwischen den Menschen zutage. Mystik braucht vielleicht eher die Hoffnung auf Revolution, insofern Mystik das Erschauen eines in letzter Instanz unvermittelbaren Glücks oder Sinns ist. Jetzt ist es so, dass die Art unserer gesellschaftlichen Beziehungen – Konkurrenz – und unseres Weltverhältnisses – Eigentum – sehr viele reale Zusammenhänge verdeckt, dass sie uns isoliert und wüst macht. So bedarf es einer nahezu realitätssprengenden Sensibilität, um sich bestimmte Verbindungen zu vergegenwärtigen. Insofern kann der mystische Rückzug, so wie es Gustav Landauer beschrieb, geradezu ein Werkzeug zum Erschliessen unserer kollektiven Natur sein.
NW: Zentraler Begriff für den Wandel oder sogar das Ziel von Wandel ist für Sie «Weltwiederannahme», also die Annahme «von ausgestossenen, unterworfenen und verdinglichten Ressourcen und sozialen Beziehungen». Kann oder soll eine religiöse Dimension eine Rolle spielen in diesem Projekt, das Sie mit der argentinisch-brasilianischen Denkerin Rita Segato relational nennen, Projekt der Pueblos, der Beziehungen?
EvR: «Kann» selbstverständlich. Ob «soll», darüber steht mir kein Urteil an. Bei mir selbst gibt es sicher religiöse Residuen. Ich bin und bleibe eine ungläubige Christin.
NW: An was für Überlieferungen oder Erfahrungen können Sie hier in einem befreienden Sinn anknüpfen?
EvR: Typisch für eine Protestantin vermittelt sich mein ansonsten distanzierter Bezug zur Kirche über Kirchenmusik. Und wenn man eine Messe singt, oder auch ein Requiem, dann rekapituliert man darin eine besondere Befreiungsgeschichte, nämlich eine, die den Umweg über eine unendliche Ressource nimmt. Intrareligiös ist diese Ressource transzendent angesetzt, die unendliche Quelle ist göttliche Liebe und die Befreiung ist Erlösung. Für mich steht die kommunistische Idee genau dafür, dass unter Menschen mehr möglich ist, als verbissen Gerechtigkeit zu erkämpfen. Solidarität, erfahrbar in jedem Zusammenhandeln, in jeder freiwillig bedürfnisorientierten Tätigkeit, ist die weltliche Quelle unendlicher Fülle und ermöglicht erst wirkliche Freiheit.
NW: Die Kritik des Eigentums ist in Ihrer Arbeit zentral. Die biblisch-jüdische Tradition, sich die Erde «untertan» zu machen, hat insbesondere im Christentum nicht unwesentlich zum heutigen «Regieren über Dinge» beigetragen: Natur wird als «Ding» begriffen. Welche Rolle spielt Natur, Materie als Agentin der Veränderung im Hinblick auf die Revolution?
EvR: Ich will die Handlungsfähigkeit nicht an «die Natur» delegieren. Das käme mir unlauter vor. So nach dem Motto: Jetzt, wo wir alles kaputt beherrscht haben, kann die Erde selber aufräumen. Aber «Natur» ist eben immer auch «kultivierte Natur», also von Menschenhand mitgeformte Natur. Sowohl die äussere wie auch unsere innere. Ich liebe die Vorstellung aus der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, dass es so etwas wie den Schimmer der Freiheitssehnsucht, «das Streben nach Ausdruck und Licht» durch alle Natur hinweg gibt. Die Natur verlängert also auch unser Handeln und kehrt es gegen uns und unsere Zukunft, in der der Planet Erde deutlich unwirtlicher wird.
Das biblische «untertan machen» verdankt meiner Meinung nach seine fatale Wirkung speziell der Verbindung mit dem modernen Eigentum. Als Luther es auf diese Weise übertrug, begann «untertan machen» etwas Neues zu bedeuten, etwas, das die Bauernkrieger vehement beklagten: zu willkürlich verfügbarem Eigentum machen. Und Rita Segato betont dann spezifisch das konquistatorische Moment, dass die kolonial durchgesetzte Eigentumsform den Furor der Eroberung nie aufgibt.
NW: Noch eine andere Frage zum Schluss: (Queer-)feministische und antirassistische Positionen treffen immer wieder auf den Vorwurf, sie würden die Wissenschaftsfreiheit gefährden. Was entgegnen Sie diesen Vorwürfen?
EvR: Je nachdem, in welchem Kontext sie aufkommen: Wer das innerhalb der Wissenschaft sagt, muss wissen, dass es Unfug ist. Das sind also meist unbelehrbare Kulturkämpfer. Aber ich verstehe schon, wenn Leute drumherum verunsichert sind, weil sie Transformationen unvermittelt erleben und viele Zeitungen, deren Budget für Recherchen weggekürzt ist, jedes Wochenende quasi denselben angstlustbesessenen Artikel über vermeintliche «Zensur» recyceln. Aber selbst wenn man bestimmte Sprachkritik ablehnt, also denkt, dass die Redefreiheit nicht im Namen der Antidiskriminierung eingeschränkt werden sollte, dann muss man erkennen, dass die Wissenschaftsfreiheit von solcher Kritik gar nicht berührt ist. Wissenschaftsfreiheit bedeutet, frei in der Wahl seiner Themen und Methoden zu sein – aber eben innerhalb des extrem exklusiven und reglementierten Diskurses der Wissenschaft. Redefreiheit hat da noch nie geherrscht und würde, wenn sie in dem Sinne durchgesetzt würde, dass jede*r immer alles einwenden dürfte, auch sofort zum Zusammenbruch sämtlicher Forschung führen. Wenn nun aber bestimmten Fachrichtungen wie der Geschlechterforschung unterstellt wird, sie würde die Redefreiheit angreifen, dann haben wir es in der Tat mit einer Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit zu tun: der Wissenschaftsfreiheit der Geschlechterforschung, die diskreditiert und mit anderen Massstäben gemessen wird als andere Bereiche.●
Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt am Main 2020.
*1982, ist Philosophin und freie Autorin. Sie beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.