Grün schwächt rechts

Matthias Hui, 15. Juli 2019
7/8.19

Rechtspopulismus als Antwort auf die Verunsicherungen in der globalisierten Welt war in der Schweiz früher dran als in anderen Staaten Europas. Die Wahlen im Herbst bieten eine Chance, dass auch der Abstieg der Nationalist*innen rascher kommt als anderswo. 

Wenn am 20. Oktober im an und für sich behäbigen eidgenössischen Parteifarbenspektrum der grüne Bereich deutlich breiter wird, verschiebt sich das ganze Macht­gefüge. Wenn grün von links her ausgedehnt wird und auf der Gegenseite nicht viel neue Kraft dazukommt, ist im Spektrum rechts plötzlich weniger Platz da. 

Eine pointiert linke Positionierung erlaubt es den Grünen, bei den Wahlen einen beträchtlichen Teil jener Energie aufzunehmen, die in den letzten Monaten dem Feld der Politik – zur Überraschung von uns allen – neu zugeführt worden ist. Es ist die wuchtige Energie der Klimabewegung, es ist die Wut und die Vielfalt des Frauen*streiks. Es ist die Entdeckung des Politischen ganz vieler junger Menschen. Auf diese Weise muss die Erstarkung der Grünen nicht auf Kosten der SP gehen, im besten Fall gewinnen rot und grün parallel. 

In den schwierigeren Zeiten haben die Grünen in der Schweiz glücklicherweise den Schwenker in die Mitte nicht gemacht, zu dem ihnen mannigfach geraten wurde. Sie sind bei der STAF-Abstimmung zur Steuerreform und AHV als einzige grosse Partei mit dem (roten) Fähnchen internationaler Solidarität angetreten und haben globale Steuergerechtigkeit thematisiert. Sie haben sich – dank einzelnen starken Persönlichkeiten – als Partei der Grund- und Menschenrechte qualifiziert, in Fragen der Sozial- und Migrationspolitik, der Terrorismusbekämpfung und der Über­wachung ist auf sie Verlass. Bei den Grünen ist Platz für pazifistische Anliegen: Die Jungen Grünen stehen mit am Anfang der Initiative für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten. Die Grünen sind von Frauen geprägt, die seit Jahren eine feministische Gleichstellungspolitik verfolgen; exemplarisch zeigt das Personal des Grünen Bündnis der Stadt Bern, was im Gang durch die Institutionen erreicht werden kann. Und am 1. Mai stehen viele auf der Strasse; nicht wenige aktive Gewerkschafter*innen haben ein grünes Parteibüchlein. 

Mit ihren unverbrauchten Karten und Trümpfen glaubwürdiger Alltagsarbeit könnte die grüne Partei jetzt auch in ländlichen Milieus erfolgreich werden, die sich bisher anders orientierten. Die kürzlichen Wahlen im Kanton Baselland geben Hinweise. Im schweizerischen Föderalismus und Konkordanzsystem schliessen sich utopisch-radikale Grundsätze und pragmatische Exekutivpolitiker*innen, viele mit umweltpolitischer Kompetenz, nicht aus. Die Grünen haben derzeit an beidem. Ob ein Anspruch auf einen Bundesrats­sitz – und damit die Abwahl des Beschaffers rechts-egoistischer Mehrheiten, Ignazio Cassis – eine Triebkraft des grünen Wahlkampfs sein soll, ist umstritten.

Eric Gujer schrieb in der NZZ vom 26. April 2019, dass die Grünen mit den Ängsten der Wähler*innen spielten (Klima­wandel?), aufgeklärten Städter*innen eine säkularisierte Religion anböten, aber als Träger*innen einer Modefarbe in der nächsten Saison schnell wieder out sein dürften. Gujer könnte sich täuschen. Der Wind könnte längerfristig drehen. Der SVP-Populismus ist hierzulande am Schlingern. Mehr Menschen nehmen versuchsweise das Wort Systemwandel in den Mund und erteilen Wachstumswahn und wachsenden Ungleichheiten eine Absage. In Bezug auf die Wahlen kommt den Grünen dabei jetzt eine Aufgabe zu: junge Menschen, Aktivist*innen in den plötzlich wachsenden sozialen Bewegungen, aber auch politisch heimatlos Werdende in ländlichen und liberalen Milieus auf parlamentarischer Ebene zu repräsentieren. Das hat nichts mit einer Heiligsprechung der Grünen zu tun. Sie sind eine normale, fortschrittliche politische Kraft. Aber in diesen Zeiten ist es – über die Schweiz hinaus – von grösster Bedeutung, ob das herrschende Farbenspektrum grüner oder bräunlicher wird. ●

 

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.