Gefährliche Erinnerung an die «Heldin der Favelas»

Katharina Merian, Geneva Moser, 26. November 2025
Neue Wege 6.25

Am 14. März 2018 wurde die brasilianische Politikerin und afrofeministische Aktivistin Marielle Franco ermordet. Die Erinnerung an diese Ikone des Widerstands hält auch ihre Anliegen wach: soziale Gerechtigkeit, Sichtbarkeit von queeren Menschen und ein Ende der Polizeigewalt.

NW Im Sommer 2025 wurde an der Universität von Rio de Janeiro eine elf Meter hohe Statue von Marielle Franco eingeweiht. Wer war diese Frau, dass ihr ein so riesiges Denkmal gewidmet wurde?

KM Marielle Franco ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Personen Brasiliens. Sie wird immer wieder als Gandhi oder als Martin Luther King Brasiliens bezeichnet. Ihre Figur ermöglicht einen tiefen Einblick in das Land  nicht nur in das Postkarten-­Brasilien mit den schönen Stränden. Sondern eben auch in das Schwarze Brasilien, in die Favelas …

Aus diesem Brasilien stammt Marielle Franco. Als sie am 27. Juli 1979 in der Favela Maré zur Welt kam, zeichnete sich noch nicht ab, dass sie eine Nationalheldin werden würde. Wie ist es dazu gekommen?

Sie wurde mitten in der Militärdiktatur geboren, die erst 1985 beendet wurde. Ihre Biografie verläuft also parallel zur Etablierung der Demokratie in Brasilien. Die Fragilität der Demokratie ist bis heute spürbar. Aufgewachsen in den Favelas, erlebte Marielle Franco alle dort üblichen Herausforderungen hautnah mit: Drogen, Polizeigewalt, Rassismus, Gewalt gegen Frauen, gewalttätige Formen von Homophobie oder Lesbophobie. Die schlechte Qualität der öffentlichen Schulen machte es ihr unmöglich, die Aufnahmeprüfungen für die Universität zu bestehen. So besuchte sie im Alter von etwa achtzehn einen Kurs ausserhalb der Schule, um sich auf die Universitätsaufnahmeprüfungen vorzubereiten. Sie konnte mit einem Stipendium Soziologie studieren. Das Soziologiestudium hat sie politisiert, und sie hat dann den Einstieg in die Politik gefunden. Ihr Werdegang zeigt, wie wichtig Bildung ist, um soziale Mobilität zu erleben.

Marielle Franco arbeitete auch für den bekannten Politiker Marcelo Freixo.

Genau. Freixo setzt sich gegen die korrupten paramilitärischen Gruppierungen, die Milizen, ein. Mit mafiaähnlichen Strukturen kon­trollieren diese ganze Stadtteile und unterlaufen die Staatsstrukturen. Marcelo Freixo gelang 2008 ein grosser Coup gegen die Milizen: Eine parlamentarische Untersuchungskommission führte zur Verhaftung von über 200 Personen. Damit machte er sich bei manchen extrem unbeliebt. Marielle Franco war ab 2006 seine politische Beraterin und startete 2016 eine eigene Kampagne für die Wahl in den Stadtrat von Rio de Janeiro, sie wurde gewählt. Sie setzte eigene Themen und trug den feministischen, Schwarzen Widerstand in den Stadtrat. Sie versuchte als Stadträtin, die Stimmen der Marginalisierten zu stärken. Beispielsweise setzte sie sich für lesbische Sichtbarkeit ein, kämpfte für die soziale Nutzung von Wohnraum und äusserte sich gegen Polizeigewalt. In diesem Zusammenhang muss sie etwas getan haben, was im Umfeld der Milizen als Bedrohung oder als Gefahr wahrgenommen wurde. Was genau, ist bis heute nicht aufgeklärt. Am 14. März 2018 wurde sie erschossen. Es war sofort klar: Das war kein Unfall, keine «verlorene Kugel», sondern ein gezielter Mord.

Marielle Franco erfüllt die Merkmale einer Heldin, wie sie der Philosoph Dieter Thomä in diesem Heft vorschlägt: Sie engagierte sich für etwas Grösseres, setzte sich Gefahr aus und wuchs über sich hinaus. Marielle Franco – eine Heldin?

Tatsächlich wird sie heute als Heldin gefeiert. Das ist aber nicht unproblematisch. ­Marielle Franco war sich nicht bewusst, wie gross die Gefahr war, der sie sich aussetzte. Menschen aus ihrem Umfeld haben mir immer wieder gesagt: Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie wahrscheinlich ihr Mandat als Stadträtin niedergelegt. Sie hat gerne gelebt. Die Heldinnendeutung beinhaltet die Gefahr, dass man ihr eine Bereitschaft zu sterben unterstellt. Klar, sie hat sich exponiert, hat sich engagiert  aber mit Todesgefahr hat sie nicht gerechnet. In anderen Fällen von Menschenrechtsaktivist*innen in Brasilien, die sich exponiert und in Gefahr gebracht haben, gab es Vorwarnungen. Sie wurden bedroht und eingeschüchtert. Auch Marcelo Freixo und Jean Wyllys haben das erlebt, und Jean Wyllys lebte sogar ein paar Jahre in Europa im Exil. Bei Marielle Franco gab es keine Vorwarnungen. Menschen in ihrem Umfeld deuten das so, dass eine Vorwarnung bei ihr als Schwarze, bisexuelle Frau, die die Stimme der Marginalisierten und Abgewerteten verkörpert, nicht für nötig befunden wurde. Sie wurde direkt eliminiert.

Dieser Mord löste einen enormen internationalen Aufschrei aus. Weltweit wird die Erinnerung an Marielle Franco wach­gehalten. Sie haben zu ihr und dieser Erinnerung geforscht und 2024 Ihre Doktor­arbeit publiziert. Wie kamen Sie dazu?

Zwei Tage nach ihrer Ermordung habe ich einen Zeitungsartikel darüber gelesen. Ich hatte davor noch nie von Marielle Franco gehört, aber das Gelesene hat mich unglaublich beschäftigt. Ich war fasziniert und berührt von dieser Lebensgeschichte. Dass ausgerechnet eine Frau mit einem solchen Werdegang und diesem politischen Projekt so brutal hingerichtet wurde, war schrecklich. Ich wollte die Hintergründe und auch den internationalen Aufschrei besser verstehen. Drei Monate später flog ich nach Rio de Janeiro. Dort bekam ich Gelegenheit, Menschen aus Francos Umfeld kennenzulernen und mit ihnen zu reden. Ich wusste: Daraus musste ich nun etwas machen.

Die Begegnungen mit Menschen aus Marielle Francos Umfeld waren intensiv und emo­tional. Welche Rolle spielen Gefühle in der kollektiven Erinnerung an sie?

Zwischen der individuellen Trauer und der kollektiven Erinnerung besteht eine grosse Spannung. Zu einem persönlichen Trauerprozess gehört es zu akzeptieren, dass ein Mensch nicht mehr da ist. Das ständige Heraufbeschwören von Marielle Francos Präsenz verhindert das persönliche Trauern und Loslassen ein Stück weit: In der kollektiven Erinnerung wird versucht, die Trauer und die Wut wachzuhalten, mit Protestmärschen, Statuen, Veranstaltungen und politischen Aktionen. Trotz ihrer Abwesenheit bleibt Marielle Franco dadurch präsent. Das Unrecht, das ihr geschehen ist, darf nicht in Vergessenheit geraten. Das ist wichtig für ihre politischen Anliegen. Für ihr trauerndes Umfeld ist das allerdings nicht einfach.

Dieses Wachhalten führt uns zum Konzept der «gefährlichen Erinnerung» des katholischen Theologen Johann Baptist Metz, mit dem Sie gearbeitet haben. Was führte Sie auf diesen Weg?

Ich hatte früh die Intuition, dass dieses Thema, diese Lebensgeschichte, etwas mit Theologie zu tun hat. Das zeigte sich an all den Gedenkanlässen unmittelbar nach ihrer Ermordung, an denen Franco als Märtyrerin und Prophetin erinnert wurde. Das Konzept der gefährlichen Erinnerung half mir zu verstehen, welche Funktion diese Erinnerung in der Gegenwart hat. Bei Johann Baptist Metz liegt der Schwerpunkt auf der Memoria Passionis, also der gefährlichen Erinnerung an das Leiden Jesu Christi, die uns immer wieder beunruhigen sollte: Die Memoria Passionis erinnert uns daran, dass Gott in Jesus Christus alle Menschen dazu gerufen hat, Subjekte ihres Lebens zu werden. Faktisch wird dies aber immer wieder durch Gewalt, Leid und verfrühte Tode verhindert. In dem Sinne hält die Memoria Passionis die Erinnerung an vergangenes Leid wach, das noch auf Versöhnung und Heilung wartet, für das sich die Verheissung des Subjektseins noch nicht erfüllt hat. Diesen Zugang habe ich auf die Erinnerungskultur rund um Marielle Franco angewandt und «gefährliche Erinnerung» genannt. Sie hat die Funktion, das erlittene Unrecht langfristig in Erinnerung zu halten. Gefährlich ist sie deswegen, weil sie die Gegenwart beunruhigend unterläuft.

Wurde diese Erinnerung auch den Mächtigen, den Auftraggebenden des Mordes und den Milizen in Rio de Janeiro gefährlich?

Während der Amtszeit von Präsident Jair Bolsonaro wurden die Ermittlungen immer wieder behindert und kamen kaum voran. Er ist bekannt dafür, milizenfreundlich eingestellt zu sein. In dieser Zeit war es sehr wichtig, die Erinnerung an Franco wachzuhalten, um politischen Gegendruck auszuüben und zu verhindern, dass Francos Fall vergessen ging. Mit der Wahl von Lula da Silva zum Präsidenten änderte sich ab 2023 die politische Stimmung, und in die Ermittlungen kam Bewegung. Am 24. März 2024 wurden drei Männer, die mutmasslichen Auftraggeber des Mordes, verhaftet: Es waren zwei einflussreiche Politiker und der damalige Leiter der Kriminalpolizei von Rio de Janeiro.

Linkem Denken läuft die Figur der Heldin ein wenig zuwider, weil sie den Gleichheits­anspruch bricht: Eine Heldin ragt heraus, ist grösser, wichtiger. In diesem Heft findet sich die etwas zugespitzte Unterscheidung, dass rechte Held*innen andere kleinmachen, linke Held*innen hingegen andere ermutigen und sich quasi selber überflüssig machen. Inwiefern ermutigt Marielle Franco?

Das Bild einer linken Heldin passt gut zu Franco. Man würde ihr auf jeden Fall unrecht tun, wenn man sie zur exzeptionellen, herausragenden Figur macht. Ihr Ziel war es nicht, allein in die Politik zu kommen, sondern andere Schwarze Frauen zu bestärken, das auch zu tun. Sie dachte in Netzwerken. In meiner Dissertation habe ich vier Strategien der Ermutigung oder Ermächtigung untersucht. Diese sind vielleicht nicht überraschend, aber in Marielle Francos Leben sehr deutlich zu sehen. Die erste Strategie ist Bildung. Die zweite ist «Cuidado», übersetzt Care. Die dritte ist die «kollektive Konstruktion», also das Zusammenarbeiten mit den Menschen, die effektiv von den Problemen betroffen sind. Damit wird ihr Potenzial genutzt, und es wird nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden. Die vierte Strategie habe ich «Inkarnation» und das Schaffen von Sichtbarkeit genannt. In einem rassistischen, homophoben und sexistischen Umfeld befasste sich Marielle Franco sehr bewusst mit ihrer Identität als Schwarze, bisexuelle Frau und erarbeitete sich ein positives Selbstbild. Sie verkörperte dieses Bild auch bewusst und machte sich sichtbar. Diese Sichtbarkeit  in der Politik, in den sozialen Medien  kann andere ermutigen und sie dabei unterstützen, ihre eigene Stimme zu legitimieren.

Hat auch die gefährliche Erinnerung eine ermutigende Funktion?

Ja, das finde ich auffällig. Hier zeigt sich auch ein Unterschied zu Metz und zur ­Memoria Passionis. Die gefährliche Erinnerung an ­Marielle Franco läuft nicht nur über das Leid und das Unrecht, das passiert ist. Es wird auch erinnert, was sie geschafft hat. Sie schenkt damit gerade Schwarzen Mädchen und Frauen einen ganz anderen Horizont des Möglichen. Die gefährliche Erinnerung an sie ermutigt und inspiriert, selbst aufzustehen, aktiv zu werden, Subjekte des eigenen Lebens zu werden. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch in der Politik. Ein gutes Beispiel ist das Instituto Marielle Franco. Es wurde von Francos Familie gegründet und soll ihr politisches Erbe multiplizieren. In diesem Zusammenhang hat das Institut im Jahr 2020 erstmals eine «Agenda Marielle Franco» lanciert. Das Institut lädt Menschen, die für ein politisches Amt kandidieren, dazu ein, sich mit dieser Agenda zu identifizieren und dadurch die Anliegen, die Marielle mit vielen anderen geteilt hat, zu stärken.

  • Katharina Merian,

    *1990, ist geschäftsführende Oberassistentin am Institut für Hermeneutik und Religions­philosophie an der Universität Zürich. Ihre Disser­tation über die «gefährliche Erinnerung» an Marielle Franco wurde 2023 mit dem Marga Bührig Preis ausgezeichnet.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.