«Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dieses Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein.» Mit diesem Satz beginnt Mühsam seine jahrelangen Notate. Es war in der Schweiz, in Château d’Oex. Mühsam lebte wild, er war eine zentrale Figur in der Schwabinger Bohème in München und reiste viel herum. Er erkundete die Ränder der Gesellschaft und war Sammler von Affären. Er schrieb Theaterstücke, Romane, politische Aufsätze und war aktiv im anarchistischen Sozialistischen Bund. Brüder und Freund*innen waren in Sorge über seinen Gesundheitszustand und schickten ihn zur Kur.
In jene Wochen im Herbst 1910 führt der kürzlich erschienene Comic Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen von Jan Bachmann (Illustrationen in diesem Heft, Angaben auf S. 4). Im Bild erscheint der eigenwillige Revoluzzer als Freak, üblicherweise schwarz gekleidet, mit längeren Haaren, buschigem Schnauz und ungestümem Bart, mit grosser Nase und runder, mit den Augen bisweilen verschmelzender Brille, wie er in Kur ist, am Scharwenzeln, Sinnieren und Politisieren. Es ist, als ob sich Mühsam auch im Abseits der Waadtländer und Berner Alpen und dann wieder zurück in München Tag für Tag selbst inszenieren würde. Die detailreichen, Mühsams Zeit und Geist wunderbar einfangenden Zeichnungen, welche einzelne Tagebucheinträge wortgetreu aufnehmen, lassen einen mitten in dieses Leben einsteigen.
Wie oft Mühsam in der Schweiz war, zeigen die Tagebücher. Eine enge Verbindung verkörperte zum Beispiel die aussergewöhnliche Berner Sozialistin Margarethe Hardegger (1882-1963). Sie spricht 1909 in München auf Einladung von Mühsam und Landauer über sozialistische Kultur und auch, bei Freibier, zum umworbenen Lumpenproletariat, zu Prostituierten. Mühsam schätzt Hardegger und lässt auch hier keine Möglichkeit zu einer Liebschaft aus: «Herrgott, was war das […], als sie in München mit mir Meinungen und Lager teilte, für ein blühendes, begehrenswertes Weib!»3 1911 beschreibt er in Bern ihre Art in, für ihn durchaus typischen, überheblicheren Worten: «Wir alle seien noch nicht die richtigen neuen Menschen. Sie weinte viel, und ihre Art ging mir recht nahe. Ganz klug werde ich aus der Frau nicht. Hinter all ihren hysterischen Verlogenheiten sehe ich doch so viel wahre schöne Menschlichkeit in ihr, dass sie mich immer wieder rührt und ergreift und dass manchmal ganz echte Zärtlichkeit für sie in mir aufsteigt.»4 Hardegger stand in enger Beziehung zu Clara Ragaz und Religiösen Sozialist*innen. Auch in Mühsams Tagebuch gibt es 1915 eine solche Verbindung: «Ich las eine sehr schöne Broschüre […]. ’Über den Sinn des Krieges’ […] von L. Ragaz, Professor an der Universität Zürich. Über die Ursachen der Katastrophe […,] Stärkung der Welt durch Sozialismus, Individualismus und aufbauende Kultur. Ich hatte meine Freude an der Schrift, wiewohl ich nicht in allen Punkten mit Ragaz einig bin.»5