Was hat Ihnen zum ersten Mal die Zugehörigkeit zur Community, der Sie verbunden sind, deutlich gemacht?
Stefan Heinichen Ich erinnere mich, wie ich als kleines Kind zum ersten Mal damit konfrontiert worden bin. Mein Vater sagte auf einem Spaziergang zu mir: «Die echten Roma», und er benutzte auch das Z-Wort, «die gibt es nicht mehr. Die Roma sind tot. Hitler hat sie alle umgebracht.» In mir entstanden damals innere Bilder, und ich sah plötzlich die Waggons zum Abtransport nach Auschwitz. Diese Geschichte ist bis heute sehr tief verwurzelt bei den Roma, den Sinti und auch den Jenischen. Es ist der Einschnitt des Dritten Reiches. Und das hat auch viel mit der Schweiz zu tun.
Mo Diener Bei mir stand ein Streit mit einer Freundin am Anfang. Sie sagte: «Du weisst ja gar nicht, woher du kommst.» Das verletzte mich, und ich wollte ernsthaft nach meinem Sinti-Background suchen. Von meiner Mutter wusste ich davon. Aber ich hatte diese Kultur nicht leben können, ausser Fragmenten von Erinnerungen war alles verloren gegangen. Es gab Fotos meiner Urgrossmutter, wie sie auf Märkten verkauft hatte, aber ich konnte aus diesen Geschichten nicht schlau werden. Ich wusste, dass meine Ururgrossmutter aus Elsau im Zürcher Unterland kam, nah an der deutschen Grenze. Dort gab es auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sinti-Community. Ich habe nachgeforscht und herausgefunden, dass zwar die Kinder meiner Ururgrossmutter registriert wurden, aber kein Ehemann. So konnte ich nie richtig verbriefen, wer ich bin. Als ich weiter in diese Zusammenhänge eintauchte und Freund*innen aus den Roma- und Sinti-Communitys kennenlernte, war es irgendwann eine politische, aber auch emotional abgestützte Entscheidung, mich in meiner künstlerischen Arbeit damit zu beschäftigen. Ich wollte mehr herausfinden über diese verschütteten Geschichten, die zu erzählen in unserer Gesellschaft gewaltsam verunmöglicht wurde. Ich wollte herausfinden, ob in den vielen Archiven, vor allem in den Polizeiarchiven, etwas zu finden war. Was ich tat, war für meine Familie sehr schwierig. Und ich wurde in den Archiven nicht fündig. Was im Detail passiert ist, weiss ich nicht. Meine Geschichte entstand aus erzählten Geschichten und aus einem Wissen, das man nicht im Archiv findet. Meine Mutter hat mir Fragmente von Erlebnissen und Situationen erzählt, die nichts mit unserem jetzigen Leben zu tun hatten. Für ein Kind ist es schwierig, das einzuordnen. Man weiss nicht, wo man steht. Aber man guckt in den Spiegel und merkt: Ich bin nicht ganz wie meine Freundin von nebenan, ich bin ein bisschen anders.
2013 habe ich aktiv den Austausch gesucht, um Antworten auf meine Fragen zu finden: Ist die Z-Kultur noch lebendig? Wo kann ich mehr herausfinden über die Geschichte und das heutige Leben von Roma, Sinti oder Jenischen? In Gesprächen mit Jenischen merkte ich: Das ist nicht ganz das, was mir meine Mutter mitgegeben hat, aber nicht weit davon entfernt. Dann habe ich im Kunstkontext Mustafa Asan und Milena Petrovic kennengelernt. Es ergab sich sofort eine Resonanz, die ich nicht voraussehen konnte. Wir nahmen die gemeinsame künstlerische Arbeit auf.
Willi Wottreng Ich war Journalist, und ein befreundeter Fotograf schlug mir 1993 vor, eine Reportage über Jenische zu machen. So kam ich ins «Zigeuner-Kultur-Zentrum» – bis heute sein offizieller Name – in Zürich und führte Interviews. Jenische sagten mir daraufhin: «Du kannst schreiben. Wir brauchen eine Waschmaschine – kannst du uns ein Gesuch verfassen?» So bin ich aktiv geworden in der jenischen Szene und wurde später Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landschaft, was ich heute noch bin. Mit dem Aktivismus einher ging die Forschung über die eigene Geschichte und über die Geschichte der Jenischen insgesamt.
Sie haben die Auseinandersetzung mit Ihren Zugehörigkeiten zu den Communitys der Sinti, Roma und Jenischen geschildert. Diese Gruppen werden oft in einem weiten Bogen zusammengefasst. Und Sie haben die widersprüchliche Verwendung des Z-Worts angetönt. Macht eine Verknüpfung dieser Communitys Sinn? Wo ist es wichtig, zu differenzieren?
SH Roma und Sinti sind kulturell und sprachlich miteinander verbunden. Ich spreche einen Dialekt der Roma-Gruppe der Lovara und verstehe praktisch alles auf Sintikes, der Sprache der Sinti, die übrigens die älteren Sinti früher ebenfalls als Romanes bezeichneten. Es gibt gut fünfzig verschiedene Gruppen unter Roma und Sinti, nationale und transnationale. Zusammen bilden sie die grösste Minderheit in ganz Europa. Es gibt Organisationen von Sinti oder, im französischen Sprachraum, Manouche, die sich dagegen sträuben, etwas mit Roma zu tun zu haben. Ich habe damit keine Probleme. Das ist eine politische Geschichte. Jede Gruppe hat sich eigenständig entwickelt, vieles ist ihnen gemeinsam. Die Geschichte der Verfolgung und der Ausgrenzung ist dieselbe Geschichte, inklusive Jenische. Da müssen wir ansetzen und nicht bei Auseinandersetzungen untereinander. Diese haben, gerade in Deutschland, mit Flucht und Zuwanderung zu tun. In den 1990er Jahren sind viele Roma aus dem Kosovo und aus Bosnien nach Westeuropa gekommen und dann ab 2004 und 2005 Menschen aus den neuen EU-Ländern, aus Bulgarien und Rumänien. Mit ihnen wurde ein Bild des Fremden geschaffen. Es gibt Probleme, aber es sind soziale Probleme. Diese werden im gesellschaftlichen Diskurs mit Herkunft und Ethnizität vermischt. Als Kulturvermittler habe ich derzeit viel zu tun mit ukrainischen Geflüchteten, ich spreche einen ähnlichen Roma-Dialekt wie sie. Ich erlebe immer wieder, wie Behörden ein gewisses Verhalten oder Lebenslagen von Menschen – Armut, Analphabetismus – auf das Roma-Sein zurückführen. Das ist das Gefährliche an dieser Geschichte.
WW Es gibt keinen Dachbegriff über die drei Gruppen Sinti, Roma, Jenische. Es gibt historische Verbindungen. In der Schweiz sind einige Jenische und Sinti familiär verbunden. Ich stimme dir, Stefan, zu: Die drei Gruppen werden im Wesentlichen durch die Geschichte der Verfolgungen und vielleicht auch durch den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft nach Vereinfachungen in einen Topf gepresst.
MD Ich sehe das auch als ein politisches Problem. Wir haben von 2013 bis 2022 während neun Jahren in unserem Roma Jam Session art Kollektiv zusammengearbeitet. In diesen Jahren versuchten wir, das Z-Stereotyp, das in allen Köpfen drinsteckt, zu durchbrechen. Ganz viele kulturelle Erzeugnisse haben dieses Stereotyp romantisierend festgeschrieben, zum Beispiel Malereien der «Z-Frau», nicht wenige aus dem 19. Jahrhundert, oder die Oper «Carmen» von Bizet. In den 1970er Jahren kam das Stereotyp mit Bohème und Hippiekultur wieder an die Oberfläche. Die Zuschreibungen an die Ethnizität und ihre entsprechenden Qualitäten oder eben Disabilitäten sind seit 600 Jahren fixiert. Im 15. Jahrhundert traf man vor den Toren von Schweizer Städten zum ersten Mal auf Roma. Die Menschen waren gut gekleidet, sie sassen auf Pferden, sie boten ihre Schmiedekunst an – und man liess sie nicht hinein, Zünfte schlossen die Tore für diese in den Augen der Einheimischen wahrscheinlich abenteuerlich aussehenden Menschen. Aus dieser alten Geschichte ist bis heute noch immer kein wirkliches Angekommensein in der Mitte der Gesellschaft erwachsen. Das ist der Claim des Roma Jam Session art Kollektivs: Hey, wir sind hier seit 600 Jahren, wir beteiligen uns an der Gesellschaft, indem wir in allen diesen miesen Positionen, die wir kriegen, unsere Arbeit leisten. Und dafür sollten wir unser Mitspracherecht bekommen, unsere Basis und unsere Ruhe erhalten, um unser Leben ohne Angst zu leben und unsere Kinder ausbilden lassen zu können. Ich bin auch als Lehrperson tätig. Von bestimmten Kindern weiss ich, dass sie aus Roma-Familien kommen, aber offen wird mir das nicht gezeigt. Wenn ich das in meiner institutionellen Rolle anzusprechen versuche, ist die Haltung ablehnend. Das verstehe ich. Sich zu outen, gereicht einem in dieser Gesellschaft immer zum Nachteil. Als Kollektiv haben wir es trotzdem getan, auch wenn dies im Alltag nicht besonders günstig war.
Sie machen deutlich, wie die heutige Existenz der Communitys ganz viel mit der Geschichte zu tun hat, mit einer Geschichte von Ausgrenzung, die nicht abgeschlossen, aber für Aussenstehende nur wenig sichtbar ist. Wie können Sie dazu beitragen, verschüttete Geschichten an die Oberfläche zu bringen und weiterzuerzählen?
MD Unser Kunstkollektiv Roma Jam Session art Kollektiv hat 2022 das Buch Morphing the Roma Label herausgegeben. Unsere künstlerische Methode bestand darin, das Label «Roma» zu transformieren, zu morphen. Wir wollten die stereotype Form, in die alle gepresst werden – Armut, fehlende Lernbereitschaft, keine Fähigkeit zur Ordnung etc. –, auflösen und die Vielfalt der Existenzen sichtbar machen. Als Künstlerinnen haben wir Performances gestaltet und zu dritt oder zusammen mit Kompliz*innen aufgeführt. Die Grenze zwischen dem Publikum und uns löste sich dabei ein Stück weit auf. Die Teilnehmenden lernten uns kennen und erfuhren, dass alle ganz «normal» sind, dass man zusammen Spass haben und etwas machen kann. Es ist eine Art «Infotainment»: Texte und Lieder transportieren Informationen über die Roma und ihre Geschichte, während man teilnimmt und etwas lernt. Wir organisierten auch eine Modeschau: Wir sammelten diskriminierende Zeitungsausschnitte und Ausschusspapiere des Roma Manifests, das wir geschrieben hatten, und machten daraus wunderschöne Kleider. Nach diesen ersten künstlerischen Arbeiten sind wir in tiefere Schichten getaucht: Traumata kamen zum Vorschein. In diesem schwierigen Moment suchten wir neue Formen: Stille, Meditation, Selbsterfahrung. Und wir beschäftigten uns gleichzeitig mit der Geschichtserzählung der Communitys. Wir schrieben ein Manifest und machten daraus experimentelle Poster. In der Kunstszene haben wir es geschafft, Präsenz zu bekommen. Im Kunstmuseum Basel konnten wir zum Beispiel eine grosse partizipative Performance mit den Teilnehmer*innen des Symposiums «De-Colonizing Art Institutions» aus der ganzen Welt durchführen. Dabei haben wir erfahren, dass fast alle Menschen, egal welcher Herkunft und Hautfarbe, das Vorurteil in sich trugen, Z-Leute seien grundsätzlich problematisch. So war es notwendig für uns, anderen Gruppen von Menschen, auch Geflüchteten oder queerfeministischen Minderheiten, zu erzählen, wer wir sind. Wir mussten die intersektionale Arbeit erlernen. Allianzen waren wichtig, wenn wir unseren Kampf gewinnen wollten. 2023 konnten wir den Preis für kulturelle Teilhabe der Stadt Zürich entgegennehmen. Das war wichtig, weil wir gemerkt haben, dass unsere Bemühungen wahrgenommen worden sind. Unsere Arbeit wird geschätzt, aber in den Institutionen und in der Kunstszene dennoch immer wieder aus dem Zentrum gedrängt. Das ist verständlich, denn unser Anliegen ist es, die Erzählungen der Kunstgeschichte zu verändern, sodass wir deren aktiver Teil werden anstelle von tradierten Projektionsflächen.
WW Als Geschäftsführer der Radgenossenschaft ist es meine Aufgabe, Beiträge zur Verbesserung der materiellen, sozialen und räumlichen Lebensbedingungen der Jenischen zu leisten. Das ist viel Kleinkram und Kampf. Ein strategisches Anliegen ist es, die Identität der Jenischen in der heutigen Zeit neu zu erfinden. Identität ist nichts Statisches, wir müssen sie dauernd weiterentwickeln – eine kreative Arbeit. Wer wollen die Jenischen heute sein? In meinem Roman Jenische Reise versucht eine 888-jährige jenische Frau durch die Jahrhunderte die jenische Geschichte zu imaginieren. Das Buch will einen Beitrag zum heutigen Selbstverständnis und zur Sichtbarmachung leisten und eine Art inneres Seelenleben erfahrbar machen.
An welchen Orten geschieht die Findung, die Erfindung dieser Identitäten?
WW Das beginnt mit Gesprächen, mit der Diskussion untereinander und geht weiter über Veranstaltungen, an denen sich Beteiligte, jenische Opfer der Verfolgungen, Schriftstellerinnen und Schriftsteller äussern. Wir geben zudem unsere Zeitung Scharotl heraus, die einzige jenische Zeitung international. Und die Selbstfindung geschieht immer stärker in der transnationalen Kommunikation als europäische Minderheit.
SH Ich bin seit mehr als dreissig Jahren aktiv für die Belange der Roma tätig. Ich bin ein bisschen müde geworden, weil ich das Gefühl habe, mit immer wieder anderen Menschen wieder von vorne beginnen zu müssen: Die Stereotype sind in den Köpfen der Menschen festgebrannt.
Im Kontext von Menschen mit einem Roma-Hintergrund, die aufgrund des Krieges in der Ukraine in die Schweiz geflüchtet sind und hier in Durchgangszentren leben, geht es um Aufklärungsarbeit und Kulturvermittlung. In offiziellem Auftrag des Kantons Zürich arbeite ich zum Beispiel in Gemeinden, in denen Roma-Grossfamilien aus Transkarpatien leben. Alle Seiten sind überfordert. Viele Menschen haben schon in Roma-Siedlungen in Transkarpatien grosse Diskriminierungen erfahren. Kinder beispielsweise sind nicht in die Schule gegangen, weil die Siedlungen, die Ghettos ausserhalb der Dörfer und Städte liegen. Wenn Politiker*innen oder Journalist*innen hier bei uns mehr recherchieren würden, sähen sie, wie komplex diese Geschichte ist, gerade was nationale Zugehörigkeiten im Verlauf der jüngeren Geschichte betrifft. Es geht um strukturelle, um soziale Probleme, gerade bei Grossfamilien, und nicht einfach um die Herkunft. Kürzlich habe ich erlebt, wie ein Mitarbeiter in einem Durchgangszentrum, der selbst aus einer kinderreichen Familie kommt, diese Zusammenhänge sofort begriffen hat. Du kannst keine acht- oder neunköpfige Familie in eine für kleinere Familien vorgesehene Zweizimmerwohnung einschliessen.
Bewegt sich aus Ihrer Sicht langjähriger Erfahrung etwas in der Schweiz in Richtung von mehr Inklusion? Oder herrscht politische Stagnation, gibt es gar Rückschritte?
WW Ich sehe in den Medien und in der Öffentlichkeit gegenüber den Jenischen viel Sympathie – oft mit der kleinen Einschränkung: Sie sollen leben, aber nicht in meiner Nachbarschaft. Das ist der Prüfstein. Man drückt durchaus Wertschätzung für die sichtbar reisenden Jenischen und Sinti aus, sorgt aber de facto dafür, dass Standplätze in den letzten zehn Jahren auf die Hälfte reduziert worden sind. Die Schweiz ist allerdings bislang das einzige Land in Europa, das die jenische Minderheit unter ihrem Namen als nationale Minderheit und nun auch als Opfer eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, was auf derselben Stufe wie ein Genozid ist, anerkannt hat.
Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie die jüngste Entwicklung mit dem vom Bundesrat in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten zur Verfolgung von Jenischen und Sinti sowie der anschliessenden anerkennenden Stellungnahme des Bundesrates vorsichtig positiv?
WW Nicht «vorsichtig»: Die Anerkennung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist eine Errungenschaft, sie gibt uns politisch einen neuen Stand. Die jenische «Gemeinschaft», wenn es das gibt, äussert sich nicht gerne positiv zu Handlungen des Bundes. Aber es ist allen klar, dass die Entwicklung politisch ziemlich spektakulär ist. Sie schafft für die Jenischen noch keine sozialen und kulturellen Verbesserungen im Alltag, aber sie gibt den jenischen Aktivistinnen und Aktivisten eine bessere Grundlage, auf die sie ihre Forderungen abstützen können.
Wo liegen die brennendsten sozialen Probleme?
SH Auch ich sehe die jüngsten Entwicklungen als grosse Errungenschaft. Für die Roma ist allerdings weiterhin belastend, dass wir nicht als nationale Minderheit anerkannt sind. Auch die Schweizer Roma-Geschichte und die Geschichte der offiziellen Schweiz mit den Roma müsste aufgearbeitet werden. Von Gruppen im Raum Strassburg im Elsass beispielsweise, die jetzt zum Teil als EU-Bürger*innen ganzjährig in der Schweiz leben, haben viele alte familiäre Verbindungen in die Schweiz, auch zu jenischen Familien. Frauen verloren früher nach der Heirat mit einem Ausländer, eben zum Beispiel einem Roma aus dem Elsass, ihre schweizerische Staatsbürgerschaft. Manche dieser elsässischen Roma-Familien hatten Angehörige im KZ verloren. Die Schweiz wies sie in der Nazizeit an der Grenze ab. Bei meiner Arbeit als Kulturvermittler auf Transitplätzen für Fahrende, etwa in Wileroltigen bei Bern, erlebte ich immer wieder Roma-Gruppen, etwa aus Spanien, die von ihrer Verfolgungsgeschichte gezeichnet sind. Manche der Familien kamen ursprünglich aus Polen, flüchteten vor den Nazis nach Spanien und leben jetzt in Italien – auch Holocaustüberlebende waren noch darunter, die letzten Zeitzeug*innen.
MD Im künstlerischen Bereich gab es Öffnungen und ein wachsendes Interesse daran, die Geschichte dieser Communitys in einen ästhetischen Diskurs zu integrieren. Kunst ist im Moment – weit über diese Fragen hinaus – eine Art Scharnier für viele Diskurse, weil man mit Bildern, mit Sprache, mit Musik bei Menschen vieles bewegen kann. Inwiefern diese Entwicklungen politische Auswirkungen haben, kann ich nicht abschätzen. Politisch läuft im Moment grundsätzlich ja sehr vieles in die eine, ausschlussfreudige Richtung.
WW Ich sehe die Öffnung in kulturellen Milieus ebenfalls. Auch bei vielen Jungen ist ein Interesse an Diversität da, das sich zugunsten dieser Minderheiten auswirkt. Bei vielen alten Menschen gibt es umgekehrt noch eine gewisse Offenheit, weil sie in früheren Zeiten Jenische kannten. Es gibt gesellschaftlichen Rassismus, diesen kann man teilweise durch Aufklärung ein wenig eindämmen. Das Problem ist der institutionelle Rassismus auf den Ebenen von Gemeinden, Kantonen und dem Bund. Gerade Mitglieder von Exekutiven in den Gemeinden sind oft der Meinung, ihre Wiederwahl sei gefährdet, wenn sie etwa einen Platz für Fahrende in ihrer Gemeinde befürworten würden. Sie beugen sich voreilig der vermeintlichen Stimmung des Volkes. Institutioneller Rassismus betrifft auch Bildungsbehörden, wo gegenüber der Thematisierung der Jenischen, Sinti und Roma im Schulunterricht immer noch Abwehrhaltungen bestehen.
Sie waren alle am Lehrmittel Jenische – Sinti – Roma beteiligt, das 2023 in Zürich erschienen ist. Haben Sie aus der Praxis erste Rückmeldungen erhalten?
WW An diesem ersten Lehrmittel, das aus den Minderheiten heraus entstanden ist, sind wir nicht bloss beteiligt, wir haben dieses aus unseren Minderheiten heraus initiiert. Widerstand haben wir erlebt, als das Lehrmittel vereinbarungswidrig aus dem Programm des vorgesehenen Lehrmittelverlags geworfen wurde. Die Begründung war fadenscheinig, es ging wohl um die Angst vor dem Thema und vor finanziellem Risiko. Ich kritisiere, dass die Bildungsdirektorenkonferenz kein empfehlendes Wort zu diesem Projekt sagte, um die Aufmerksamkeit der Schulbehörden auf diese Thematik zu richten. Das ist für mich ein Beispiel von institutionellem Rassismus. Das Lehrmittel ist eine Pionierarbeit, aber kein Grosserfolg. Es zeigt, was in den Schulen möglich wäre.
MD Es gibt Lehrpersonen, die sehr gut mit diesem Lehrmittel arbeiten. Die Kinder reagieren offenbar immer positiv, in ihnen sitzen keine primären Diskriminierungsabsichten.
SH Es ist ein grosser Erfolg, dass das Lehrmittel herausgekommen und sogar in zweiter Auflage erschienen ist. Aber wir müssen es immer wieder neu bewerben. Wir müssten es auch dort einsetzen, wo jetzt Schulen aus institutionellem Rassismus heraus Kindern von geflüchteten Roma aus der Ukraine ablehnend gegenüberstehen und sie in separaten Klassen unterrichten wollen.
Wie steht es um die religiösen Institutionen? Sind das Ihrer Erfahrung nach auch Orte, wo es institutionellen Rassismus gibt?
WW Erwartbar findet man in den religiösen Institutionen viele Menschen guten Willens. Es gibt aber eine institutionelle Problematik. Sie zeigt sich bei der Schwesterngemeinschaft «Seraphisches Liebeswerk» in Solothurn, die für den Entzug von Kindern von Jenischen und Sinti mitverantwortlich ist, aber nach meinem Wissen einen Teil der Akten vorsätzlich vernichtet hat und sich dieser Vergangenheit nicht stellt.
Finden die Communitys in gewissen religiösen Gemeinschaften aber auch Orte, wo ihre Geschichte von Ausgrenzung ausgesprochen werden kann und es Platz gibt für eigene Spiritualität?
SH Viele Geflüchtete aus der Ukraine, aber auch viele Roma insgesamt sind in Freikirchen organisiert. Das ist auch ein Resultat von jahrhundertelanger Ausgrenzung durch die Grosskirchen. Vor allem in den letzten Jahrzehnten sind Freikirchen in diese Lücken gesprungen, weil die Bedürfnisse nach religiösem Halt bei vielen Menschen gross sind. Es gibt Familien mit einer grossen Frömmigkeit, die sich teilweise darin ausdrückt, dass sie nicht rauchen und keinen Alkohol trinken. Zum Überleben ist für unsere Communitys Pragmatismus sehr wichtig, auch religiöser Pragmatismus. Es gibt in meiner Umgebung Familien, in denen die einen muslimisch sind, andere freikirchlich und dritte katholisch. Ich kenne eine Person, die zuerst bei den Zeugen Jehovas war, später zu einer Freikirche wechselte und schliesslich lutherisch wurde. Die Ausrichtung geht auch dorthin, wo man Anerkennung erhält. In einer Wohnung ist vielleicht ein Bild der Madonna aufgehängt, daneben eines von Mekka – man kann ja nie wissen.
WW Viele Jenische haben eine hohe Religiosität. Ich erfahre die Menschen oft als naturverbunden und antiinstitutionell. Ich kenne Jenische, die jeden grossen Baum am Wegrand umarmen. Das ist ein spiritueller Ausdruck. Ich habe dagegen mehrfach Begräbnisse erlebt, die von kirchlichen Pfarrerinnen oder Pfarrern geleitet wurden. Typischerweise gab es zwischen der Pfarrperson und dem Publikum etwa vier leere Reihen. Die Menschen sitzen hinten, und wenn lange geredet wird, gehen sie eine Zigarette rauchen.
SH Von noch grösserer Bedeutung als die institutionalisierte Religion sind oft die Familie und die alten Traditionen. Bei den Roma heisst der Geist von Verstorbenen Muló, und für traditionell lebende Menschen ist er präsent. Man passt auf, dass man nicht schlecht spricht über eine Person, die gestorben ist, denn sie kann sich melden und eingreifen. Es sind Ängste vorhanden.
WW Auch für die Jenischen haben nach meiner Erfahrung die Verstorbenen eine grosse Bedeutung. Sie sind zum Teil noch gegenwärtig. Vom Tod und von einer verstorbenen Person wird mit einer gewissen Scheu gesprochen.
Zum Schluss: Worauf freuen Sie sich in Ihrer weiteren Arbeit mit Ihren Communitys?
SH Ich würde mich freuen, wenn jetzt die jüngeren Generationen das Zepter übernehmen und für die Anliegen der Roma aktiv würden. Ich könnte dann getrost nach Bulgarien zurückgehen und meine Ruhe geniessen …
WW Ich freue mich über die immer stärkere Vernetzungsarbeit der Jenischen auf europäischer Ebene. Aus verschiedenen kleinen Inseln entsteht etwas wie ein Kontinent.
MD Ich freue mich, dass wir als Kollektiv etwas zu einer neuen Roma-Vision beitragen durften. Ich sehe, dass auch ausserhalb der Schweiz viele auf diesem Weg sind und dieselben Ziele verfolgen: Es gibt das European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC). Es gibt das RomArchive, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Prozess der Dekonstruktion und Rekonstruktion der Geschichte, Künste und Kulturen von Sinti und Roma zu fördern. Es gibt viele junge Freund*innen von uns, die künstlerisch tätig sind und langsam Fuss fassen.●
set.ch/jenische-sinti-roma
(Lehrmittel Sinti – Roma – Jenische)
*1948, arbeitete als Redaktor der NZZ am Sonntag und der damals linksliberalen Weltwoche. Er ist Schriftsteller und wirkt seit 2014 als Geschäftsführer der «Radgenossenschaft der Landstrasse», der Dachorganisation der Jenischen und Sinti*zze in der Schweiz.
*1961, ist Performancekünstlerin, Choreografin, Aktivistin für die Rechte der Rom*nja. In ihrer künstlerischen und forschenden Praxis widmet sie sich der Analyse und Untersuchung von Wahrnehmung sowie der Interdependenz von Körper, Geist und Raum in diversen kulturellen Kontexten. Ihre Arbeit basiert auf langjähriger Forschung in zivilgesellschaftlichen, juristischen und historischen Archiven sowie auf Methoden der Oral History.
*1962, ist Jugendarbeiter in einer katholischen Pfarrei und Kunstmaler in Winterthur. Er ist als Übersetzer und Mediator für die Belange der Rom*nja in der Schweiz tätig und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.