«Die Bauern wollten nicht den Krieg»

Matthias Hui, Kurt Seifert, 3. März 2025
Neue Wege 2.25

Das Jubiläum 500 Jahre Bauernkrieg führt zu zahlreichen Ausstellungen, Forschungsprojekten, Kongressen und Publikationen. Die Neuen Wege führen ein Ge­­spräch mit zwei Wissenschaflter*innen, die sich dem Aufruhr von 1525 ganz unterschiedlich annähern. Der eine tut dies über die aufgrund der Drucktechnik möglich gewordene mediale In­­szenierung von unterschiedlichen Positionen, die andere über die sozialgeschichtliche Unter­suchung der ländlichen Gesellschaft, ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen und ihrer Ungleichheiten.

Thomas Kaufmann, was ist aus Ihrer Sicht der Kern der Ereignisse von 1525?

TK Ich setze mit der Begriffsgeschichte des Bauernkriegs an. In der Wahrnehmung der Mehrheit der Zeitgenossen, die sich damals publizistisch geäussert haben, war der Bauernkrieg ein Aufruhr, ein Aufstand gegen die bestehende Ständegesellschaft und das damit verbundene Unrecht. Aus der Perspektive der agierenden Bauern selbst war der Bauernkrieg eine umfassende, übergreifende Bewegung zur Durchsetzung zentraler sozialer und rechtlicher Forderungen. Diese waren die Reaktion darauf, dass sich in den Jahrzehnten vor den Aufständen die Rechtsstellung der Bauern deutlich verschlechtert hatte.

Janine Maegraith, Sie forschen zur ländlichen Gesellschaft in Tirol im 16. Jahrhundert. Wie würden Sie die Ereignisse von 1525 fassen?

JM Ich kann mich Thomas Kaufmanns Einordnung voll anschliessen. Aus der Perspektive der Bauernaufstände in Tirol, dem Gebiet, zu dem ich forsche und wo die rechtliche Lage der Bauern eine andere war als zum Beispiel in Oberschwaben, möchte ich etwas ergänzen: 1525 kam es bei den bäuerlichen Einwohner*innen zu einer Bewusstseinswerdung, dass es zwar möglich ist, rechtliche Mittel zu ergreifen, um ihre rechtliche Situation zu stärken und gegen die Grundherren anzugehen, aber dass diese Mittel auch begrenzt sind. Hinzu kommt die Einsicht der bäuerlichen Bevölkerung, dass sich klösterliche Institutionen weit über ihre eigentliche Funktion hinaus Einnahmen verschafften und die Bevölkerung ausbeuteten.

TK Diese Ausbeutung lässt sich am Beispiel der Fürstabtei Kempten im Allgäu gut aufzeigen: Die dortigen Äbte haben gefälschte Rechtsdokumente ins Spiel gebracht und damit das festgeschriebene Recht instrumentalisiert, um gegenüber den Bauern Ansprüche durchzusetzen, von denen die Bauern im Rahmen des überkommenen, ungeschriebenen Rechts nichts wussten.

JM Eine interessante historische Entwicklung, die zum Aufruhr und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, zum sogenannten Bauernkrieg, führte, ist dabei die Tatsache, dass die vorhandenen rechtlichen Mittel der Konflikt­lösung, die gerichtlichen und aussergerichtlichen Aushandlungsprozesse, nicht ausreichten, um eine Einigung zu erreichen.

Wieso sprechen Sie vom «sogenannten» Bauernkrieg?

JM Ich bin Sozial- und Geschlechterhistori­kerin. Ich halte den Fokus auf die Ereignisgeschichte, also die Rekonstruktion der Ereignisse auf Basis von Quellen, die meist aus obrigkeitlicher Hand stammen, eher für fragwürdig. Denn dies schliesst Menschen und Kontexte aus, die nicht in den Quellen genannt werden. Wir Sozialhistoriker*innen untersuchen Rahmenbedingungen und Hintergründe. Deshalb haben wir Probleme mit der Begrifflichkeit «Bauer», weil das Geschehen eben nicht nur «den Bauern» betraf, sondern die ganze ländliche Bevölkerung, besitzende und nichtbesitzende Landleute, Männer wie Frauen. Wir halten auch den Begriff «Krieg» für problematisch, der rechtshistorisch sehr komplex ist. In der eigenen Bezeichnung der Beteiligten erscheint eher das Wort «Aufruhr». Deshalb hinterfragen wir die Rede vom Bauernkrieg und versuchen zu differenzieren.

TK Interessant ist auch, dass in der neueren Diskussion das Adjektiv «deutsch» verschwunden ist. Es war immer vom «deutschen Bauernkrieg» die Rede. Seit dem Theologen und Historiker Wilhelm Zimmermann in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Bezug des Bauernkriegs zur Nation enorm akzentuiert. Denn er hatte ein eminentes Interesse an einer politischen Referenzfolie für die Bemühungen um Demokratie in Deutschland vor 1848. Die lange Zeit als kanonisch geltende Darstellung des Bauernkriegs von Günther Franz, einem alten Nazi, führte dieses Narrativ im 20. Jahrhundert in anderer Weise fort. In den Quellen und den bäuerlichen Forderungen des 16. Jahrhunderts finde ich so gut wie keinen Rekurs auf das nationale Narrativ, das allerdings durchaus präsent war, wenn Sie an Luthers Appell An den christlichen Adel deutscher Nation denken.

Und was ist Ihr Narrativ?

TK Für mich ist der Bauernkrieg das Ergebnis eines medialen Inszenierungsaktes. Der Bauernkrieg in meinem Sinne ist nicht ablösbar von städtischen Akteuren, die als Verbindungspersonen zwischen einer «Öffentlichkeit» und bäuerlichen Akteur*innen unterwegs waren. Beispiele sind Christoph Schappeler und Sebastian Lotzer, die als mutmassliche Verfasser der Zwölf Artikel An die versamlung gemayner pawerschafft in Memmingen gelten. Diese Artikel sind ein Wahnsinnsdokument, weil sie in ihren sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und religiösen Forderungen einen einzigartigen und revolutionären Anspruch vertreten: Das Dokument – ein Autor tritt ja nicht hervor – erhebt den Anspruch, die Interessen der gesamten Bauernschaft universal zum Ausdruck zu bringen. Diesem Dokument wurde eine rasante Publikations- und Rezeptionsgeschichte zuteil. Auf diesem Weg der Öffentlichkeit, so meine These, wurde die in der Regel sehr stark auf spezifische lokale oder regionale Verhältnisse bezogene Aufstandsbewegung zu einer Art Flächenbrand.

Würden Sie, Thomas Kaufmann, so weit gehen zu sagen, dass die bäuerliche Bevölkerung gar nicht der entscheidende Akteur war?

TK Die Vorstellung, die Bauern seien 1525 sozusagen gegen den Rest der Welt gestanden, ist völlig anachronistisch oder auch sozialromantisch. Wenn man den Bauernkrieg als umfassendes, transregionales Phänomen versteht, dann sind die entscheidenden Akteure diejenigen, die die Verbreitung dieser Texte und die gegenseitige Beeinflussung zwischen den verschiedenen Aufstandsregionen ermöglicht haben. Das werden in Einzelfällen Bauern gewesen sein, aber auch Bauernführer oder sonstige Personen. Man darf nicht vergessen, dass der niedere Adel in vielen Aufstands­szenarien eine nicht unwichtige Rolle gespielt hat. Die Agitation hat funktioniert, weil sie eine entsprechende Resonanz in der bäuerlichen Lebenswelt gefunden hat. Wenn es diese Resonanz nicht gegeben hätte, dann wären die Bauern nicht losmarschiert. Das Agieren intellektueller Einflussnehmer hatte den Lebensbedingungen der Bauern Rechnung zu tragen. Aus der Schöpfung wurde abgeleitet, dass das Recht der Allmende gilt, dass jeder ein Recht auf freien Zugriff auf Fische, Vögel, Jagdgut, Holz oder Wasser hat. Aus der Erlösung durch Christus wurde abgeleitet, dass niemand einem anderen untertan sein soll, weil wir alle gleichermassen erlöst und deshalb gleichermassen frei sind. Wenn ein Bauer diese grossartigen Ideen hört, sprechen sie ihn natürlich an, weil sie den Kern der eigenen Existenz berühren.

JM Ich würde die aktive Rolle der bäuerlichen Bevölkerung nicht ganz so kleinreden. Wir dürfen nicht vergessen, dass etwa neunzig Prozent der Bevölkerung ländlich war. Der Grossteil der Beteiligten an den Ereignissen von 1525 lebte bäuerlich-ländlich und hatte ja auch seine guten Gründe für die Teilnahme am Aufruhr. Wir dürfen nicht nur auf die Zwölf Artikel schauen, sondern müssen auch die zahlreichen lokalen Forderungskataloge berücksichtigen, die es gibt. Jedes Territorium im Tirol, in Oberschwaben oder auch im Gebiet der heutigen Schweiz hatte seinen eigenen Forderungskatalog.

TK Ich stimme Ihnen zu, aber diese lokalen und regionalen Forderungskataloge sind eben niemals gedruckt worden. Der einzige gedruckte Forderungskatalog sind die Zwölf Artikel. Von den einzelnen lokalen, handschriftlich verbreiteten Forderungskatalogen kommen Sie nicht auf das umfassende Phänomen, das wir «Bauernkrieg» zu nennen pflegen. Leute zum Beispiel in Thüringen machten sich mit der allergrössten Selbstverständlichkeit die Forderung zur Abschaffung der Leibeigenschaft zu eigen, obwohl es in Thüringen keine Leibeigenschaft gab. Hier hat sich ein Forderungspaket verselbständigt. Es ist ja heute bei der Deutung der Zwölf Artikel auch von einer Art Grundrechts­proklamation die Rede: Bestimmte Formen von Untertänigkeit und Abhängigkeit sind Menschen, Bauern nicht zumutbar. Das Spezifische des sogenannten Bauernkriegs gegenüber den vorreformatorischen Bauernaufständen ist die Publizistik, die Dynamik, die sich durch die mediale Revolution ergibt. Die Verbreitung der Aufstandsbewegung in Mitteldeutschland und eben im Südwesten Deutschlands ist ziemlich deckungsgleich mit den verdichteten Zonen typografischer Kommunikation. Da, wo gedruckt wurde, gab es auch Aufstände.

JM Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass der grosse Teil der ländlichen Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnte. Vieles wurde durch mündliche Kommunikation verbreitet, das beobachten wir auch in den Tälern in Tirol. Die Vielfalt dieser Bewegung und die beachtliche Anzahl der verschiedenen Forderungen entstanden durch vielfältige Formen der Kommunikation. Was im Einzelnen durch Druckschriften, das Auswendiglernen der Druckschriften oder durch mündliches Weiter­tragen geschah, können wir nicht nachweisen. Wir müssen alles zusammen ausgewogen im Blick behalten.

Sie, Janine Maegraith, sprechen davon, dass es in der Forschung notwendig sei, den Blick zu dezentrieren. Der Fokus müsse weniger auf das Spielfeld, sondern stärker auf den Hintergrund gerichtet werden, auf diejenigen, die in den Haustüren und im Schatten stehen. Wie kommen Sie mit diesem Ansatz zu neuen Erkenntnissen?

JM In vielen Gegenden gibt es immer noch sehr wenig Forschung zur ländlichen Gesellschaft. Unser Forschungsprojekt in Tirol am Zentrum für Regionalgeschichte in Brixen untersucht den sozialen und ökonomischen Hintergrund und dabei speziell die Haushalte. Wir beziehen selbstverständlich das neuere ökonomische und geschlechtshistorische Verständnis von Haushalten ein, nach dem alle Personen in das System eingebunden sind und ihre Aufgaben haben. Aus den Gerichtsbüchern versuchen wir zu rekonstruieren, wie der Alltag der Haushalte aussah, wer welche Rollen übernahm, und zwar Männer, Frauen wie Kinder. Wie sah die Rechtspraxis aus, die Inanspruchnahme rechtlicher Möglichkeiten durch die Beteiligten? Dazu verwenden wir vor allem die sogenannten Verfachbücher, die Gerichtsprotokolle, als Quelle, die alle Besitzveränderungen dokumentieren, zum Beispiel durch Heirat, Vererbung, Weitergabe unter Lebenden, Testamente, aber auch Verkäufe und Verpachtungen. Mit diesen «zivilrechtlichen» Quellen können Besitzstrukturen, Nutzungsrechte oder Vererbungsrechte, aber auch die materiellen Lebensbedingungen der Haushalte rekonstruiert werden. In Tirol war eheliche Gütertrennung rechtlich vorgegeben, das heisst, dass Eheleute ihren Besitz in die Ehe einbrachten und gemeinsam nutzten, sie aber die Besitzrechte an ihrem Teil behielten und bei Todesfall keinen Erbanspruch auf den Teil des oder der Verstorbenen hatten. Die Vererbung war offener geregelt, sodass Sie Gegenden mit ungeteilter und mit geteilter Besitzweitergabe finden. Die Quellen zeigen ein weites Spektrum der Rechts­praxis, zum Beispiel Witwen, die den Fruchtgenuss über das Gut ihres verstorbenen Ehemannes erhielten und den Hof weiterführten, oder Ehefrauen, die mit ihrem Vermögen aktiv am Erwerb von Immobilien beteiligt waren.

TK Solche mikrohistorisch ausgelegte Sozialgeschichte finde ich ausserordentlich interessant. Aber wie kommen Sie über diese Rekonstruktion der ländlichen Gesellschaft und ihrer Strukturen zum Bauernkrieg?

JM Unser Ziel ist eigentlich nicht der Bauernkrieg, sondern eine differenziertere historische Beschreibung der ländlichen Gesellschaft und der Zeit. Man braucht selbstverständlich eine Ereignisgeschichte, aber sie darf nicht das einzige Narrativ bleiben. Damit hängt die Quellenkritik zusammen: Ich hadere mit der Interpretation, die auf den Bauernkrieg als sehr virile, männliche Veranstaltung hinausläuft. Es geht um Maskulinität, um Brüderlichkeit, das ist richtig. Aber wenn ich darauf fokussiere, fällt der ganze Rest der Gesellschaft in ein Vakuum. Wir versuchen, dieses Vakuum zu füllen: Wie sahen die Lebensrealitäten aus? Warum erscheinen die Frauen fast nicht in den Quellen? Und wie lesen wir die Quellen? Frauen mussten beispielsweise den Hof weiter versorgen, wenn die Männer loszogen. So analysiere ich auch die Protokolle der Verhöre, die im Zusammenhang mit der Befreiung des Bauernheerführers Peter ­Pässler im Mai 1525 und den folgenden Plünderungen von Neustift, Schloss Rodenegg und der Hofburg Brixen geführt wurden. Die Männer wurden zum Teil unter Folter nach den Plünderungen, der Planung des Aufruhrs und der Informationsverbreitung unter den Bauern befragt. Als Orte für Letzteres nannten sie öffentliche Handlungsräume wie Plätze oder das Brothaus, aber auch die Höfe, sodass eine wesentlich grössere Mitwisser*innenschaft und eventuell Beteiligung angenommen werden kann. Die Frage ist, warum bestimmte Dinge gesagt werden und andere nicht, und warum keine Frauen genannt werden.

TK Quellenkritik impliziert, sich vor Augen zu führen, welche Art Überlieferung wir besitzen. Der Grossteil ist die Überlieferung der Herrschaften, eine Siegergeschichtsschreibung. Die ureigenste Stimme der Bauern, die Bauern und erst recht die Bäuerinnen selbst sind ausserordentlich schwer greifbar.

JM Genau deswegen wollen wir die Sozialgeschichte rekonstruieren. Wenn wir näher an die Lebensrealität herankommen, vor allem auch mittels Analyse der Rechtspraxis und der materiellen Lebensbedingungen der ländlichen Haushalte, dann können wir diese Leere ein wenig füllen.

Sie haben beide noch wenig von Theologie, vom Kontext der Reformation gesprochen. Wie hängt der Bauernkrieg damit zusammen?

TK Er ist eindeutig ein integraler Bestandteil der Reformation. Ohne reformatorische Agitation, die wir seit 1520 auf breiter Front haben, ist für mich der Bauernkrieg unvorstellbar. Im Kontext der Reformation sind Forderungen erhoben und Parolen zur Sprache gebracht worden, nicht zuletzt die von der Freiheit eines Christenmenschen. Die klangen in bäuerlichen Ohren möglicherweise sehr anders, als sie von ihrem Autor Martin Luther gemeint waren. Ein zweiter Punkt: Die Reformation hat eine fundamentale Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft und insbesondere an der Rolle des Klerus formuliert. Und dieser bereits vorreformatorisch vorhandene, jetzt aber fokussierte Antiklerikalismus ist ein Grundzug der bäuerlichen Aufstände: Es wird gezielt auf Klosteranlagen zugegriffen. Der Klerus als Herrschaftsträger, dem die Bauern Abgaben zu liefern haben, ist von der reformatorischen Botschaft her durch nichts, aber auch gar nichts mehr legitimierbar. So hat die Reformation bäuerlichen Forderungen massiv zugearbeitet – entgegen dem vor allem durch Luther verbreiteten Narrativ, dass alles miteinander gar nichts zu tun hätte und ein einziges grosses Missverständnis sei. Dies ist in der lutherischen Geschichtsschreibung unendlich fortgeschrieben worden und bedarf der grundlegenden Korrektur.

JM Auch wenn in Tirol die Aufstände nicht mit dem reformatorischen Gedankengut anfingen, wäre die Bewegung ohne diese ideelle Basis aus der Reformation, ohne die antiklerikale und antimonastische Haltung, die radikales Denken ermöglichte, nicht weitergegangen. In Tirol wollte man die Klöster nicht unbedingt auflösen, aber ihre Funktion einer Territorial­herrschaft wurde nicht mehr anerkannt. Mit dem reformatorischen Gedankengut wurde es möglich, die Kritik an der damit einhergehenden Ausbeutung zu formulieren – in Tirol stärker vom Zürcher Reformatoren Zwingli als von Luther beeinflusst.

TK Was in der reformierten Tradition sehr viel stärker ist und in den bäuerlichen Gemeinschaften entsprechenden Anklang gefunden hat, ist das, was der Historiker Peter Blickle «Kommunalismus» genannt hat. Es geht um das Verständnis eines sozusagen republikanischen Gemeinwesens. Dieses soll nicht von Herrschaftsstrukturen dominiert werden. Vielmehr sollen einzelne Personen und Familien, Haushalte, daran partizipieren. Dazu hat insbesondere Zwingli, auch vor dem Hintergrund der stadtrepublikanischen Erfahrung in Zürich, entsprechende Impulse gegeben. Ich sehe die Zwölf Artikel viel eher im Bannkreis dieser zwinglianischen Gedanken als deren Luthers. Dieser hat sich ab 1523/24 massiv obrigkeitskonform geäussert.

Sie, Thomas Kaufmann, beschreiben, wie es zu einem «Heldenstatus» für den radikalen Reformatoren Thomas Müntzer kommt: durch die publizistische Gegenübersetzung von ihm und Martin Luther, stark befördert bereits durch Martin Luther selbst und fortgesetzt in der gesamten Wirkungsgeschichte. Das Thema Bauernkrieg war immer auch zentral mit dieser Figur verwoben. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht?

TK Das Schicksal von Thomas Müntzer ist es, dass er durch die Rezeptionsgeschichte seiner Figur auf seine letzten Lebenswochen im Bauernkrieg reduziert wird. Diese Geschichte war zunächst durch Luther und Konsorten eine negative und wurde dann durch Der deutsche Bauernkrieg von Friedrich Engels ins Gegenteil gewendet, blieb aber derselben Antithetik verhaftet. Müntzer ist eine extrem schillernde Figur, in seiner Zeit einzigartig, auch mit einer sehr speziellen Rhetorik. Ich kenne im frühen 16. Jahrhundert keinen Autor, der kompliziertere deutsche Texte geschrieben hat als ­Thomas Müntzer. Er ist ausserordentlich schwer verständlich und in seiner Zeit publizistisch annähernd wirkungslos gewesen. Er hat versucht, durch eine Reise in den Südwesten bis nach Basel auch mit bäuerlichen Milieus in Kontakt zu treten, was offenkundig nicht funktioniert hat. Bei seiner Rückkehr Anfang Februar 1525 ist er in Mühlhausen in eine Rolle als Agent Provocateur der sich formierenden Widerstände hineingeraten. Im Nachhinein erscheint Müntzer als der grosse Agitator, der den Bauernkrieg vom Zaun gebrochen hat. Müntzer hatte als Apokalyptiker ein theologisches Konzept der nahe bevorstehenden Veränderungen, er erwartete in der Tat im Kontext dieser bäuerlichen Aufstände das Eintreten der massgeblichen Wende der Geschichte. Wie in der Bibel plötzlich himmlische Heerscharen auf Seiten des israelitischen Volks kämpfen, sollte dies auch bei Frankenhausen passieren. Ich würde Müntzer als Scheinriesen bezeichnen. Es gibt diese Figur in einem wunderbaren Buch von Michael Ende: Je weiter man weg ist, desto grösser ist das Phänomen, und je näher man kommt, desto kleiner wird es. Je stärker ich mich der historischen Person Müntzers annähere, desto unbedeutender und wirkungsloser erscheint er mir in seiner Zeit. Wenn Luther nicht publizistisch auf ihn eingehauen hätte, würden wir uns seiner heute nicht mehr erinnern.

JM Sie sprechen mit dem Prinzip der Helden etwas Wichtiges an. Aber mit Ihrer Charakterisierung von Müntzer ecken Sie wahrscheinlich ziemlich an.

TK Ja, sicher, es gibt nach wie vor Müntzer-­Enthusiasten und -Enthusiastinnen. Ich finde ihn auch höchst interessant. Aber meine Bereitschaft, mich mit Figuren des 16. Jahrhunderts zu identifizieren, hat im Laufe der Befassung mit diesem Zeitalter Schaden genommen.

Janine Maegraith, wie sieht es mit radikalen Reformatoren in Ihrem Forschungs­gebiet Tirol aus? Wie schätzen Sie deren Wirkung – auch über den Bauernkrieg hinaus – ein?

JM In Tirol kam es zu einer sehr grossen Reaktionswelle der Obrigkeit, die Täufer und Täuferinnen wurden entweder ins Exil geschickt oder umgebracht. Da wurde sehr scharf durchgegriffen. Ich befasse mich zum Beispiel auch mit Haushaltsinventaren, dort findet man kaum Bücher, und das hat einen Grund: Die Bücher wurden wahrscheinlich konfisziert. Der grosse «Held» in dieser Region ist «Bauernführer» Michael Gaismair. Die Konzentration in der Forschung auf Einzelpersonen finde ich allerdings problematisch. Von den Held*innen müssen wir uns verabschieden. Für mich machen sozialgeschichtliche Forschungsansätze mehr Sinn, zumal in Tirol die Gerichte oder Kommunen im Landtag vertreten waren und damit eine politische Repräsentation hatten. Das kommunalistische Denken hatte dort bereits eine Basis, was man auch anhand des Umgangs mit Gemeingütern und des Zugangs zu ihnen untersuchen kann.

Ist die täuferische Bewegung auch integraler Teil des Bauernkriegs und der reforma­torischen Bewegung von 1525?

TK In der Täuferforschung sind wir heute weithin einer «polygenetischen» Rekonstruktionsperspektive verpflichtet: Das heisst, wir sehen Wurzeln des Täufertums sowohl in Sachsen, bei den Reformatoren Müntzer und Karlstadt, als auch in Zürich. In Zürich finden sie sich im Kreis der ehemaligen Zwingli-­Anhänger, die sich dessen etatistischem Reformationsmodell verweigert haben und der Meinung waren, dass die Gemeinde und nicht der Zürcher Rat die Richtlinien der kirchlichen Neugestaltung festlegen soll. Täufertum hat sehr viel mit «gemeindereformatorischen» Impulsen zu tun, also damit, dass Einzelpersonen und Kommunen die Religion selbst gestalten wollten. Für eine ganze Reihe von Täuferführern wie Hans Denck, Hans Hut, Balthasar Hubmaier oder Ludwig Hätzer lässt sich eine enge Verbindung zum Bauernkrieg nachweisen. Das waren Bauernkriegsveteranen, sie waren in die aufrührerischen Vorgänge involviert und fanden nicht ohne Weiteres in die zeitgenössische Ständegesellschaft zurück. Die Koinzidenz der beiden Jubiläen – die erste Glaubenstaufe in Zürich im Januar 1525 und der Bauernkrieg – ist nicht zufällig und hat ein Fundament innerhalb der Geschichte der Reformation. 1525 ist das Jahr, in dem die Tendenz zum Nonkonformismus, zur Diskonformität gegenüber einem sich etablierenden Hauptstrang einer Reformation von oben greifbar und sichtbar wird.

Am Ende Ihres Buchs Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis kommen Sie zu einem pessimistischen Fazit: «Gewiss hat man in der Abwehr aufgenötigter Gewalt ein elementares Recht und ein notwendiges Übel zu sehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Krieg an sich sinnlos ist, ja das Übel selbst. Auch der Bauernkrieg war sinnlos.» Bleibt wirklich keine andere Erkenntnis aus der Auseinandersetzung mit 1525? Läuft eine solche Positionierung nicht Gefahr, die luthersche Haltung, ein Christ, eine Christin habe jeglicher Obrigkeit zu gehorchen, zu bestätigen?

TK Es scheint mir nicht möglich, in der Folge des Bauernkriegs so etwas wie eine substanzielle Verbesserung der sozialen und rechtlichen Situation der Bauern festzustellen. Es ist auch nicht ohne Weiteres angängig zu sagen, nach dem Bauernkrieg sei es schlechter geworden. Im Bauernkrieg sind hunderttausend Menschen in barbarischster Manier abgeschlachtet worden, und dies in Situationen und Konstellationen, in denen sie wahrscheinlich militärisch überhaupt keine Chance hatten. Es wurde eine heillose Siegerjustiz inszeniert, die vor allem darauf abzielte, abzuschrecken und so etwas nie wieder möglich zu machen. Das Ganze finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich grausam und vollkommen sinnlos. Vielleicht ergibt sich diese zuspitzende Formulierung daraus, dass ich der Bauernkriegsforschung vorwerfe, dass sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine retrospektive Sinnkonstruktion betreibt. Dass sie mit der Revolution des gemeinen Mannes im Kontext einer marxistischen Geschichts­ideologie so etwas wie einen sinnhaften Aufstand konstruiert hat. Denn der Bauernkrieg wurde ja als «frühbürgerliche Revolution» und damit als Präludium zu jenen Umwälzungen für eine bessere Gesellschaft interpretiert, die dann in der proletarischen Revolution und im Aufbau des Sozialismus enden sollten. Eine solche geschichtsphilosophische Sinnstiftung entbehrt jeder historischen Grundlage. Deshalb möchte ich das nicht fortsetzen. Vielleicht auch, weil wir kein Bauernkriegsnarrativ mehr brauchen, um unseren eigenen Willen zu einer liberalen und demokratischen Gesellschaft zu behaupten, sondern dafür auf andere historische Erfahrungen zurückgreifen können.

JM Ich sehe, wohin Sie wollen: Geschichte soll nie retrospektiv legitimiert werden. Aber wenn Sie sagen, der Bauernkrieg sei sinnlos gewesen, dann schliessen Sie sich diesem Denken eigentlich an, indem Sie ihn umgekehrt quasi delegitimieren. Es geht mir darum zu analysieren, welches die Kontexte waren, was passiert ist, und zu analysieren, welche Folgen das hatte. Und nicht darum, die Ereignisse zu werten. Für mich ist interessant, welche Verrechtlichungsprozesse folgten, welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Bauernkrieg hatte. Oder welche Bewegungen im reformatorischen Bereich entstanden. Ich frage nicht: War das jetzt ein sinnvolles Mittel? Die Bauern wollten nicht den Krieg.

TK Der zitierte Satz von mir steht ja im Schlusskapitel mit der Überschrift Heldendämmerung. Darin zeige ich auf, dass der Grossteil der Helden des Bauernkriegs eines nicht waren, nämlich Bauern. Allein das zeigt schon, was für eine verquere Sicht auf das Phänomen in einer sehr komplexen und äusserst fragwürdigen Rezeptionsgeschichte besteht. Ich bastle keine weiteren Heldennarrative im Zusammenhang des Bauernkriegs. Die Formulierung «sinnlos» bezieht sich darauf, dass sinnstiftende Narrative im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg aufgebracht wurden, von denen ich mich verabschieden möchte. Sie werden bei mir aber hinreichend lesen können, dass die Tendenz zu einer obrigkeitsgeleiteten Reformation nach 1525 völlig dominieren wird. Insofern liefert der Bauernkrieg einem Martin Luther das finale Argument gegen die Gemeindereformation.

Wir möchten die Frage nach dem Sinn zum Schluss noch auf die persönliche Ebene heben. Wo sehen Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit den Sinn, sich mit dieser Epoche, mit den Geschehnissen von 1525 zu beschäftigen? Was ist es, das Sie weiterhin begeistert?

TK Meine Antwort ist schlicht. Mich fasziniert daran, dass ich einen grossen Ereigniszusammenhang, der als «Bauernkrieg» in die Erinnerungskultur eingegangen ist, als ein medial induziertes Phänomen rekonstruieren kann. Ich glaube, dass man zeigen kann, dass – pathetisch formuliert – erstmals in der Geschichte der Menschheit durch das Druckmedium ein Ereigniszusammenhang dieser Art initiiert wurde. Damit wird die Sprengkraft dieser Reproduktionstechnik, die wir Buchdruck nennen, erstmals in besonderer Weise greifbar.

JM Für mich hängt die Faszination eher mit der Zeit zusammen. Ich finde es sehr spannend, auf diese Zeit des Frühkapitalismus zu schauen, mit sich ausweitendem Handel und Veränderungen im Rechtssystem. In Tirol entstand kurz danach die erste Landesordnung. Es wurde auf altes Territorialrecht rekurriert. Ich finde die Veränderungen in der sozialen Rechtsgeschichte spannend: zu schauen, wie sich die Rechtspraxis auf lokaler Ebene änderte, wie Konflikte zum Beispiel über Besitzansprüche ausgehandelt und Schlichtungen vertraglich niedergeschrieben wurden und wer daran beteiligt war. Auf lokaler Ebene finde ich die wirtschaftlichen Veränderungen bei den Haushalten, die wir feststellen können, sehr interessant. Alles hängt miteinander zusammen, und es geht darum, diese Erkenntnisse mit den Narrativen des Bauernkriegs in Verbindung zu bringen. Was passiert in diesem Moment? Warum ist dieser Moment so wichtig?

Gewinnen Sie daraus auch Erkenntnisse für die Gegenwart?

JM Einmal ist es die Bedeutung der Kommunikation zwischen unten und oben, die Frage des Dialogs. Vor allem, wenn es zum Beispiel um die wachsende Ungleichheit geht. Wie gehen wir dieses Problem, diese Konflikte auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene an, im Kleinen wie im Grossen? Ich lebe in England, wo wir sehen können, wie die Ungleichheit gerade in extremer Weise anwächst. Das andere ist der Umgang mit den Ressourcen, mit der ländlichen Bevölkerung, mit Landwirtschaft, mit Versorgung. Diese Thematik spitzt sich mit dem Klimawandel ausserordentlich zu. In diesen Fragen können wir von der historischen Beschäftigung mit dem Bauernkrieg und seiner Zeit zwar nicht einfach lernen, aber wir können sensibilisieren für Probleme, die wir heute haben und die sich noch massiv verstärken werden.●

Thomas Kaufmann, *1962, ist evangelischer Theologe, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen und Direktor der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Seine Schwerpunkte sind die Reformationsgeschichte und die Geschichte der Frühen Neuzeit. Nach Büchern über Martin Luther oder die Täufer hat er 2024 den viel beachteten Band Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis publiziert.

Janine Maegraith, *1970, ist freie Sozialhistorikerin und Bye-Fellow am Newnham College, Cambridge. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Konsum und materielle Kultur, Formen der Eigentumsübertragung, Erbschaft und Haushaltsstruktur, Geschichte und Entwicklung der weiblichen Orden sowie die Auswirkungen der Säkularisation. Ihr aktuelles Forschungsprojekt zur ­Ökonomie von Haushalten am Zentrum für Regionalgeschichte in Brixen bezieht sich auf die ländliche ­Gesellschaft in Tirol im 16. Jahrhundert.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.

  • Kurt Seifert,

    *1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.