In Sulzbach-Rosenberg, einer Stadt in der Oberpfalz, steht ein mittelalterlicher Wehrturm aus dem Jahr 1388. Eine enge Wendeltreppe verbindet seine drei Etagen. Im Erdgeschoss: Wohnzimmer, Küche und Bad. Im ersten Stock das Arbeitszimmer: ein Schreibtisch, ein Sessel, eine Leselampe. Und darüber, im zweiten Stock, das Schlafzimmer: ein grosses Bett, ein alter Kleiderschrank. Aus dem Fenster blickt man auf grüne Wiesen, Bäume und einen schmalen Bach, der leise vorbeifliesst.
Für einen Monat lebe ich hier als Turmstipendiat des Literaturarchivs der Stadt. Ich ziehe mich zurück und schreibe Gedichte – das ist die Idee. Und trotzdem glaube ich nicht an stille, einsame Autor*innen, die sich der Welt entziehen, um eine Geschichte wie «aus dem Nichts» aufs Papier zu bringen. Schreiben bedeutet nicht Stillstand, nicht Isolation. Schreiben bedeutet, Teil der Welt zu sein und zu ringen mit dem, was rundherum geschieht. Immer suche ich nach Wörtern, immer schreibe ich in Bewegung – und ich lese und höre zu. Kein Text existiert ohne den anderen. Wer schreibt, verbindet sich.
Auf meinem Schreibtisch stapeln sich Bücher, die ich aus Berlin nach Sulzbach getragen habe. Friederike Mayröcker, Ocean Vuong und Radical Love von Omid Safi über die Lehren islamischer Mystiker auf dem Weg der Liebe zu Gott. Für die Mystiker, schreibt Safi, gibt es keine Trennung zwischen menschlicher Liebe und göttlicher Liebe. «Es ist diese leidenschaftliche Liebe, ein göttliches Sich-Vermischen mit dem Menschlichen, die für diese Suchenden ein Mittel spirituellen Aufstiegs war, um Gott hier und jetzt zu erblicken.» Eshq, radikale Liebe, ist der wahre Kern des Göttlichen, erklärt Safi.
Im Buch stosse ich auf Shams-e Tabrīzīs Entferne die Kaaba. Ein poetisches Gedankenspiel: Die ganze Welt versammelt sich im Gebet um das Heiligtum in Mekka, ein Kreis, der sich verbeugt. Dann wird die Kaaba entfernt – «Verneigen sie sich denn nicht voreinander?» Shams sagt: Sie beugen sich vor den Herzen der anderen.
Es ist ein magisches Bild, das auf den Punkt bringt, was das Gebet sein kann: Ein Akt der Verbundenheit über alle Entfernung hinweg, so wie das Schreiben auch. Egal wo du dich befindest – du bist Teil eines Ganzen. Der Gedanke schafft Ruhe. Er gibt dir das Gefühl, nicht allein zu sein.
Vielleicht ist es immer ein Kreis, den wir bilden – ob wir beten, schreiben, lesen oder sprechen. Vielleicht geht es nicht so sehr um das Zentrum, sondern um das Rundherum, wie wir uns jeweils ausrichten.
Ich öffne mein Smartphone und bestimme mit einer App die Gebetsrichtung. Den Teppich, den ich neben den Büchern im Koffer mitgebracht habe, rolle ich Richtung Kaaba aus. «Gottes ist der Osten und der Westen; wohin ihr euch auch immer wendet, dort ist Gottes Angesicht» (Sure 2:115). Ich bin nicht allein in diesem Turm. Gott ist allgegenwärtig. «Er ist dem Menschen näher als seine Halsschlagader» (Sure 50:16). Auch das ist ein Bild, das das Herz zur Ruhe bringt. Ich bin ein Dichter, der schreibt, glaubt und betet – auch in diesem Turm.
Ich rolle den Teppich zusammen und setze mich wieder an den Schreibtisch. Was Shams sagte, lässt mich nicht los. Was bleibt, wenn das Zentrum verschwindet? Wohin richten wir uns, wenn Mauern zerfallen? Was muss geschehen, damit sich unsere Blicke treffen? Plötzlich bröckelt der bayerische Wehrturm, in den ich mich zurückgezogen habe, und ein Sturm aus Schlagzeilen fegt die Blätter vom Tisch.
«First Thing: UN says 14,000 babies could die in Gaza in next 48 hours under Israeli aid blockade» (The Guardian)
«Lage im Gazastreifen: Eine halbe Million Menschen steht vor dem Hungertod. Punkt.» (Zeit Online)
Auch nach Sulzbach-Rosenberg verfolgt mich die Verzweiflung angesichts dieser Katastrophe, die sich vor unser aller Augen abspielt.
Als schreibender Mensch suche ich nach Nähe im Wort, um den Verstand nicht zu verlieren. Schreiben kann etwas Therapeutisches haben: sich herantasten, in Distanz gehen und wieder in Nähe, traurig und wütend sein, zuhören und mit der Sprache ringen – weil sie nie genügt für das, was wir fühlen, sehen und denken. Das ist, was Literatur ausmacht. Sie vergegenwärtigt und verbindet, sie protestiert und klagt an, sie ermächtigt, erinnert und gedenkt. Und sie stellt Fragen.
«Wie erzählt man von einer Welt, in der auch die Geschichten buchstäblich ständig von Auslöschung bedroht sind?», fragt das Literaturhaus Berlin und lädt ein zum Auftakt der Veranstaltungsreihe «Zeit für Gaza», um die Aufmerksamkeit auf die Realität vor Ort zu richten.
Aus dem Arbeitszimmer heraus öffne ich den Stream: Ich höre Fadi Abdeinour zu, wie er ein Gedicht von Mahmud Darwisch zitiert, und Heba Tebakhi, die das Publikum in die Geschichte der palästinensischen Literatur einführt, «von dem Moment an, als es notwendig wurde, von palästinensischer Literatur zu sprechen, bis in die Gegenwart», in der Schriftsteller*innen in Gaza unter Bomben weiterschreiben und ums Überleben bangen. Ich klebe mit beiden Augen und Ohren am Bildschirm, und mein Atem stockt, als das Autor*innenkollektiv «um ihre namen zu sagen» die Namen von 239 getöteten Journalist*innen und Autor*innen in Gaza vorliest.
Egal wie dick die Mauern oder wie breit der Bach ringsum – für einen Dichter, hier im bayerischen Turm, darf es keinen Rückzug vor der Welt geben.