Das Utopische im Gegen­wärtigen erkennen

Matthias Hui, Geneva Moser, 20. Juni 2024
Neue Wege 4.24

Radikale Kritik des Bestehenden reicht nicht aus, um die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Im Gegenwärtigen lassen sich aber viele ermutigende Spuren von Veränderung ausmachen. Die Ge­schlechterforscherin Franziska Schutzbach untersucht Frauen­beziehungen mit dem Anspruch, diese von der Kalenderblattbe­tulichkeit zu befreien und zu einem beunruhigenden, aufregenden oder verheissungsvollen Thema zu machen.

Franziska Schutzbach, Sie sind Geschlechterforscherin. Die Gender Studies stehen aktuell im medialen Fokus. Dem Fach wird Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen, die Arbeit sei politisch ausgerichtet. Wie ordnen Sie diese Kritik ein?

Als feministische Sachbuchautorin und Geschlechterforscherin bewege ich mich zwischen verschiedenen Genres. Meine politischen Bücher sind weniger regelgebunden, da beziehe ich mich stärker auch auf meine persönlichen Erfahrungen. Deshalb ist es mir wichtig vorwegzuschicken, dass ich nicht nur akademische Geschlechterforschung im strengen Sinne betreibe. Aber zu eurer Frage: In der akademischen Geschlechterforschung gibt es, wie in vielen Wissenschaften, Forschungsansätze, die einen gesellschaftskritischen Anspruch haben und die auf Machtverhältnisse fokussieren. Dabei fragen diese Forschungsansätze nicht nur, wie Machtverhältnisse funktionieren, sondern sie sagen auch: Es könnte auch anders sein. Aber selbst empirische Beschreibungen ohne direkten politischen Anspruch, beispielsweise die Erforschung von Herzinfarkten bei Frauen, können politische Auswirkungen haben: Aus der Forschung der Gendermedizin wissen wir, dass in der medizinischen Forschung bisher der Männerkörper als Massstab galt. Das hat in diesem konkreten Beispiel mitunter tödliche Folgen, weil Herzinfarkte bei Frauen seltener erkannt werden. Die Symptome sind bei ihnen andere und wurden zu lange nicht erforscht. Die Frage, was untersucht wird und was nicht, ist letztlich immer politisch. Insofern sind die Gender Studies in der historischen Perspektive ein wichtiges Korrektiv, das die Forschung objektiver macht und pluralisiert. Sie entstanden aus der Frauengeschichtsforschung, die die Männergeschichte um andere und breitere Blickwinkel, Erzählungen, Wahrheiten ergänzt und korrigiert hat. Auch Forschung ohne Genderperspektive, die von sich behauptet, gänzlich unideologisch zu sein, ist oft politisch, weil sie von eklatanten Auslassungen, von Einseitigkeiten geprägt ist. Es reicht aber auch nicht, zu sagen, alles sei politisch. In der Ära von Fake News muss die Wissenschaft auf ihren wissenschaftlichen Standards beharren. Auch kritische Wissenschaft ist nicht einfach Meinung, sondern regelgeleitet und steht auf der Grundlage von Methoden und Theorien. Diese wiederum müssen offengelegt werden und sich der Kritik aussetzen.

Was hat Sie politisiert, Ihr kritisches ­Bewusstsein geweckt?

Politisierung ist ein lebenslänglicher Prozess und von vielen Faktoren abhängig. Aber ich glaube, meine Mutter hat mich politisiert. Sie hat mir auf einer emotionalen Ebene einen tieferen Sinn für Ungerechtigkeit vermittelt. Sie hat uns Schlaflieder vorgesungen, in denen es um Armut und Flucht, um Verzweiflung ging. Unter anderem hat sie uns jiddische ­Lieder aus dem Getto vorgesungen. Meine Mutter hat zwar keine jüdischen, aber polnische Wurzeln. Sie hat als junge Frau Kinder­bücher verfasst, unpublizierte und selbstgemalte, liebevoll von Hand geschrieben. Da ging es zum Beispiel um die Krähe Hinkel, ein Plüschtier, das im Spielzeugladen nicht verkauft wird, weil es ein kurzes und ein langes Bein hat und niemand diese beschädigte Krähe kaufen will. In einem anderen Buch ging es um ein Kind mit rotem Haar, das gemobbt wird. Diese melancholischen Lieder und Geschichten berührten mich sehr. Später habe ich beim Philosophen Ernst Bloch gelesen, dass Gefühle eine wichtige Voraussetzung der Politisierung sind. Politisierung geschieht offenbar weniger auf einer rationalen Ebene, nicht, weil uns etwa rational erklärt wird, warum Menschenrechte wichtig sind. Sondern weil Gefühle von Empathie geweckt werden. Wie das eben die Lieder meiner Mutter vermochten. In meinem neuen Buch befasse ich mich mit dieser Frage: Welche Rolle spielen Emotionen und Beziehungen für eine linke oder feministische Politik der Solidarität und Verbundenheit? Rechtsextreme und rechte Akteur*innen bespielen die Klaviatur der Gefühle ja stark, aber auf unsolidarische Weise. Da geht es um Emotionen für das eigene Volk, um selektive Emotionen, um das Schüren von Ressentiments und Hass. Rechte Gefühlspolitik dient dazu, sich selber narzisstisch aufzurichten in der Abwertung von anderen. Was können wir dem entgegenhalten? Mit Ernst Bloch sollten wir eine Politik des Wärme­stroms, Denkbewegungen aus Nicht-Kälte und Nicht-Härte praktizieren, die Empathie, Zuversicht und Hoffnung verbreiten. Aus meiner Sicht müssen wir mehr Orte schaffen, an denen wir einander mit prinzipiellem Verständnis begegnen, Orte, an denen Menschen einander Liebe und Vertrauen zukommen lassen. Wir bedürfen der Liebe und der Liebesfähigkeit, damit wir weiterhin zur politischen Hoffnung fähig sind. Die radikale Kritik des Bestehenden allein bewirkt keinen Wärme­strom, keine Hoffnung. Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir auch Zeit und Raum für Wärme und Emotionen, für Fantasie und Enthusiasmus bereitstellen.

Sie betreiben «feministische Kritik». Immer noch herrscht die Ansicht, dabei handle es sich um einen Teilbereich linker Kritik. Ist das so? Inwiefern hat Kritik an den Geschlechterverhältnissen immer das grosse Ganze im Blick?

Feministische Kritik spricht über Machtverhältnisse, die die ganze Gesellschaft durchdringen. Oft wurde und wird von universalistischen Herangehensweisen gesprochen, wenn es sich in Wahrheit um Männerperspektiven oder um die Beschreibung von Männerleben handelt. Wir müssen also überdenken, was eine universalistische Sicht eigentlich ist. Forderungen der feministischen Kritik sind universell. Nehmen wir als Beispiel das Plädoyer für Care als Zentrum einer utopischen Gesellschaftsordnung, also die Erkenntnis, dass wir alle abhängig sind von Fürsorge. Diese Erkenntnis kommt aus der feministischen Theorie, und auch, dass die Abwertung von Care auf der Abwertung des Weiblichen beruht. Wenn Frauen abgewertet bleiben und mit ihnen das Thema Fürsorge und Solidarität, wird es keine gerechte und friedliche Gesellschaft geben können. In den Neuen Wegen schrieb Annemarie Sancar in einem Text über Clara Ragaz, wie die feministische Friedenspolitik Care und Frieden zusammen denkt: «Care-Arbeit ist eine der elementarsten Formen gesellschaftlicher Teilhabe. Sie wird meistens von Frauen geleistet, die damit das Gefüge unserer Gesellschaft zusammenhalten und täglich zu unserem Sicherheitsempfinden beitragen. Für eine geschlechtergerechte Form des Friedens müssen wir Care-Arbeit als Friedensf­örderung anerkennen und gerechter verteilen. Je besser die Bedingungen, unter denen sie erbracht wird, desto eher durchbrechen wir Gewaltstrukturen.»

In Kürze erscheint Ihr neues Buch. Nach der Auseinandersetzung mit der Erschöpfung von Frauen widmen Sie sich jetzt dem Thema «Verbundenheit». Warum dieser neue Fokus?

Bisher war meine Perspektive: Ich kritisiere patriarchale und andere Machtstrukturen. Wir müssen das, was jetzt ist, überwinden. Wir müssen eine andere Gesellschaft aufbauen, System Change! Ich bin natürlich immer noch für System Change. Ich will aber nicht in der Frustration über den ausbleibenden Systemwandel ausharren. Ich werde älter und habe keine Zeit, auf den Umbruch zu warten, sondern will in meinem jetzigen Leben erfahren, dass eine andere Welt möglich ist. Ich frage: Wo haben Frauen beziehungsweise FINTA-Personen (Frauen, inter, nichtbinäre, trans und agender) solidarisch und in Verbundenheit gehandelt und damit tiefschürfende Veränderungen ermöglicht? Ich möchte mit meinem Buch das, was bereits jetzt alternativ und anders ist, herausarbeiten und in den Rissen des Alltags das bereits Utopische suchen – und finden. Karl Marx sagt, die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden sei unsere Sache und nicht die Konstruktion der Zukunft. Die feministische Philosophin Bini Adamczak widerspricht in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution entschieden: Die Zukunft sollte unsere Sache sein, die Ausmalung des Utopischen, einer besseren Gesellschaft muss unsere Sache sein. Wir müssen verständlich machen, warum eine Gesellschaft der Solidarität, der Freundschaft, der Fürsorge besser ist als eine Welt der Konkurrenz, der Hierarchie oder der geistigen Abschottung und Grenzabriegelung, besser als eine Welt der rassistischen, völkischen Reinheitsfantasien oder der Nationalismen und der Kriege. Es liegt in unserer Verantwortung, überzeugendere Bilder von Freiheit, Gerechtigkeit und Verbundenheit in Umlauf zu bringen als die Angebote der faschistischen, reaktionären oder religiös-fundamentalistischen Kräfte. Wir dürfen ihnen das Feld der Utopien nicht überlassen. Auch die feministische Denkerin Christina Thürmer-Rohr sagt, dass diese «verrottete Gegenwart» alles ist, was wir haben, und wir uns in einer unperfekten Welt mit unperfekten Menschen engagieren müssen. Auf sie richtet sich unsere Sehnsucht nach einem vergnüglichen, aufregenden, erfüllten und sinnlichen Leben. Auch die politische Philosophin Silvia Federici ermutigt uns zu einer freudvollen Militanz, die sich nicht zu viel vornimmt und auch in einer nicht perfekten Welt transformative Möglichkeiten mobilisiert. Hoffnung ist nichts, was man einfach hat, sondern eine Praxis und eine Fähigkeit, die wir uns immer wieder erarbeiten müssen.

Wo konkret suchen Sie das Utopische der Gegenwart?

In meinem Buch habe ich den Fokus auf Frauenbeziehungen gelegt. Mich interessiert, welche Rolle Frauenbeziehungen oder Beziehungen zwischen Flinta-Personen in Emanzipationsprozessen spielen. Dabei interessieren mich auch Konflikte, Differenzen und Spaltungen. Ich habe Handlungsräume erkundet, deren emanzipatorische Bedeutung für unsere Gesellschaft oft übersehen wird. Wie gestalten Frauen ihre Beziehungen zueinander, und was bedeuten diese Beziehungen für ihre individuelle Entfaltung, aber auch für die politischen Wirkungs- und Lebensweisen? Ich habe mich mit Freundschaft, Solidarität, Liebe, politischer Schwesternschaft, aber auch mit dem Scheitern und der Infragestellung der politischen Schwesternschaft beschäftigt. Ich habe Kontexte angeschaut, wo Frauen autonome Strukturen ausserhalb der Männergesellschaft aufgebaut haben. Und ich habe mich mit emanzipatorischen wie auch mit schwierigen Mutter-­Tochter-Beziehungen und mit weiblichen Familiengenealogien befasst. Dabei wurde mir klar, dass weiblicher Eigensinn oft dann möglich ist oder war, wenn Frauen sich aneinander orientieren oder «sich die Seele ausfüllen», wie Bettina von Arnim es in ihren Briefen an Karoline von Günderode formulierte. Also dann, wenn sie sich der «patriarchalen Spaltungsmaschine» entziehen, sich von der männerzentrierten Welt ab- und einander zuwenden. Frauenbeziehungen können eine das Patriarchat unterminierende Kraft haben. Wenn Frauen ihre Orientierung an Männern lockern, werden sie freier. Frauenbeziehungen können auch politische Aufstände bewirken. Ich versuche, mit der Autorin Silvia Bovenschen gesprochen, Frauenbeziehungen von der Kalenderblattbetulichkeit zu befreien und zu einem beunruhigenden, aufregenden und verheissungsvollen Thema zu machen.

Wie kommen Gesellschaftskritik und die Utopie der Verbundenheit in ein Gleichgewicht? Ist die Betonung von Freundschaft und Verbundenheit nicht auch ein Rückzug ins Private?

Wenn wir Freundschaften pflegen, dann halten wir am Glauben an andere Menschen fest, und wir glauben auch an uns selbst. Wir glauben, dass andere uns wohlgesonnen sind. Diese positive Ausrichtung an anderen ist auch zentral für politische Hoffnung. Die Freundschaft ist eine besonders freie und egalitäre Beziehungsform. Sie ist nicht so sehr von festen Erwartungen, Normen, Interessen und auch weniger von Hierarchie geprägt als andere Beziehungsformen, etwa Verwandtschafts­beziehungen, die Ehe, romantische Liebes- und Exklusivitätsideale oder auch geschäftliche Beziehungen. Die Freundschaft ist von Freiwilligkeit und Freiheit geprägt. Es wäre viel gewonnen, wenn Freundschaft als Grundlage des Politischen gedacht würde, denn Freundschaft schliesst die Möglichkeit ein, trotz Machtstrukturen, trotz gesellschaftlicher Krisen und Katastrophen, an einer positiven und hoffnungsvollen Idee eines gemeinsamen Zusammenseins von Menschen festzuhalten.

Frauen stiften aber nicht per se Freundschaft und Verbundenheit. Zur Utopie der Verbundenheit gehört auch Trauerarbeit, sagen Sie in Ihrem Buch, Trauerarbeit über das Scheitern: Verletzungen, Gräben, Differenz, Komplizinnenschaft von Frauen mit der Herrschaft. Wie wird solche Trauer­arbeit möglich?

Frauen sind keineswegs von Natur aus Beziehungsmenschen oder gar die besseren Menschen. Es geht mir nicht um das Ideal einer wohligen Einigkeit. Ich versuche eine Utopie der Verbundenheit zu skizzieren und gleichzeitig auch ihr Misslingen zu beschreiben und zu verkraften. Es gibt keine Schwesternschaft ohne Scheitern. Unter Frauen finden wir Differenzen, Zerwürfnisse, Entsolidarisierung, Täterinnenschaft. Die Arbeit an einer Revolution der Verbundenheit funktioniert nicht, ohne Trauerarbeit über die Verletzungen zu leisten, die Frauen einander auch antun. Wir sind einander keine Engel. Ohne kritische Selbstreflexion werden unsere Utopien zu abgeschlossen und starr. Utopien haben dann Kraft, wenn sie sich selbst unbehaglich bleiben. Oder um es mit der Autorin Ilse Aichinger zu sagen: Wir müssen uns immer auch selbst misstrauen. Der vermeintlichen Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken und der Güte unserer Taten müssen wir stets auch misstrauen. Das leuchtet mir ein: Wir können nur vertrauensvoll sein, wenn wir uns selbst misstrauen.

Innerhalb emanzipatorischer Bewegungen ist es nach wie vor oft so, dass der Hinweis auf Differenzen bezüglich Erfahrung oder Betroffenheit von Verhältnissen als Spaltpilz verstanden und deshalb vermieden wird. Wie lässt sich Solidarität erlernen, die über Unterschiede hinweg möglich ist?

Die Tatsache, dass es auch unter minorisierten Menschen Verrat, Machtausübung und Unterdrückung geben kann, müssen wir wirklich ernst nehmen. Wenn wir über Schwesterlichkeit sprechen, wenn wir versuchen auszuloten, was die Grundlagen für Allianzen oder Koalitionen über grosse Differenzen hinweg sein sollten, dann ist aus meiner Sicht der erste Punkt, das ernst zu nehmen und zu akzeptieren. Wenn wir die Verwobenheit in Machtstrukturen von uns allen wirklich ernst nehmen, dann bedeutet das, dass eben ein Zusammenkommen in feministischen Beziehungen oder Kämpfen nicht erholsam sein wird, sondern anstrengend. In einer häufig zitierten Rede über Koalitionspolitiken argumentiert ­Bernice Johnson Reagon, eine afroamerikanische Aktivistin, Anthropologin und Musikerin, dass sich eine gemeinsame politische Praxis nicht an der Idee der Gleichheit orientieren kann. Das heisse zwar nicht, dass es nicht notwendig wäre, einen Raum oder ein Zuhause «of your own» zu haben, wo wir uns auch zurück­ziehen, nähren und wieder aufrichten können. Aber ein solcher Raum sei ein unzulängliches Modell für eine Welt mit vielen verschiedenen Menschen. Auch aus meiner Sicht sollte politische Schwesternschaft nicht darauf ausgerichtet sein, ein Zuhause oder einen Ort des Trostes zu bilden, ein Ort, an dem sich alle irgendwie mögen sollen. Natürlich ist «Sich-wohlfühlen-­Wollen» in politischen Bündnissen ein legitimer Anspruch, und ich würde Bündnisse nicht gänzlich auf Orte reduzieren wollen, an denen man gemeinsam politische Ziele durchsetzt. Sonst laufen wir Gefahr, bestimmte Herrschaftsverhältnisse hinzunehmen, statt sie zu hinterfragen. Aber ich stimme mit ­Reagon überein, dass der Anspruch der Heimat in politischen Zusammenschlüssen Gefahr läuft, die beteiligten Menschen zu familialisieren, zu homogenisieren. Der Wunsch, von allen gemocht zu werden, sich in Sicherheit zu wähnen, nicht verletzt, nicht irritiert, nicht herausgefordert zu werden, wird den Differenzen und dem Pluralismus realer Menschen nicht gerecht. Wenn sich nur gleiche oder ähnliche Menschen verbünden, verharren wir in Praxen der Selbstvergewisserung und verstehen nicht, dass in politischen Koalitionen die Akteurinnen meistens Opfer und Täterinnen, Diskriminierte und Privilegierte zugleich sind. Solidarität braucht viel Geduld und ist harte Arbeit: Wie müssen es immer wieder neu versuchen, werden immer wieder scheitern und uns immer wieder die Hände schmutzig machen, weil wir immer wieder Dinge falsch machen werden.

Als Kontrapunkt zu patriarchaler Geschichte wird oft die Existenz von Matriarchaten oder matrilinearen Gesellschaften angeführt. Kann das dazu beitragen, heutige Geschlechterverhältnisse solidarischer zu gestalten?

Es ist wissenschaftlich sehr umstritten, ob es eine matriarchale Gesellschaftsordnung im grossen Stil je gab. Zudem sehe ich den Versuch sehr kritisch, das Weibliche und auch das Mütterliche essenzialistisch aufzuwerten – Frauen als die Fruchtbarkeitsgöttinnen, Ernährerinnen und Beschützerinnen des Lebens zu denken oder auch als Spenderinnen des Lebens auf Erden. Solche Perspektiven laufen selbst Gefahr, patriarchale Normen und Stereotype zu reproduzieren. Frausein wird in manchen Matriarchatserzählungen gleichgesetzt mit Mutterschaft, Frauen wird das Körperliche, die Materie, die Emotion, das Nährende, Empfangende zugeschrieben. Solche Reduktionen sind patriarchal geprägt und enthalten starke Anforderungen an Frauen, wie sie sein sollten und was unter Weiblichkeit verstanden wird. Aber was, wenn du nicht ­Mutter sein willst? Wenn du intellektuell tätig sein willst? Wenn du dich als nonbinär identifizierst? Zudem wird oft das patriarchale Bild vom Mann als Herrscher, Vater und Lehrer vice versa einfach auf die Frau projiziert und quasi ein neues, ein weibliches, matriarchales Herrschaftsverhältnis idealisiert. Diese Umkehrung halte ich nicht für vielversprechend.

In der Debatte um Geschlechtergerechtigkeit kommt ein Argument immer wieder ins Spiel: Irgendwann sei es genug mit der Emanzipation und der Gleichberechtigung. Das Wesentliche sei erreicht. Man müsse jetzt schauen, dass die Männer nicht benachteiligt werden, weil sie Männer sind. Was entgegnen Sie?

In sämtlichen Bereichen von Kultur bis Politik und Wirtschaft sind die Entscheidungspositionen nach wie vor mehrheitlich von Männern besetzt. Frauen haben in der Schweiz hundert Milliarden Schweizerfranken weniger Einkommen pro Jahr als Männer. Frauen besitzen weltweit deutlich weniger Vermögen als Männer. Das Geld, das von Finanzinstitutionen in der Schweiz verwaltet wird, gehört zu 70 Prozent Männern. In der Schweiz erhalten Frauen im Alter im Schnitt über 32 Prozent weniger Pensionskassengelder. 80 Prozent der Unternehmen verzichten auf weibliches Führungspersonal. Unsere Parlamente in der Schweiz, in Europa und der Welt sind männlich dominiert. Die allermeisten Städte und Gemeinden werden von Männern geführt: Wir haben mehr Gemeindepräsidenten, die «Urs» heissen, als Gemeindepräsidentinnen. In den Zeitungsredaktionen sind mehrheitlich Männer in Chefpositionen. Universitäten werden überwiegend von Männern geführt, genauso wie Militär und Polizei.

Männer wollen das nicht sehen, weil Männer davon profitieren. Um diese Machtstruktur aufrechtzuerhalten, verbreiten sie den Mythos der längst erreichten Gleichberechtigung. Die Rhetorik eines «Zuviel» an Emanzipation ist beliebt, um Gerechtigkeitsanliegen zu torpedieren oder als Gefahr zu stilisieren. Es ist eine Machtsicherungsstrategie, Gerechtigkeit als Umkehrung der Macht darzustellen. Wir wissen aus Studien, dass Männer es als Frauendominanz wahrnehmen, wenn in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe Frauen gleich viel reden. Wenn in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe gleich viele Frauen wie Männer sind und man die Männer nach dem Verhältnis fragt, nehmen sie die Frauen in der Überzahl wahr. Sie sind es derart gewohnt, selbst in der Überzahl zu sein, dass sie Gleichberechtigung als Bedrohung empfinden oder als Umkehrung. Natürlich ist es richtig, dass Gleichberechtigung bedeutet, dass ­Männer Macht abgeben, Geld abgeben, Positionen und Privilegien abgeben müssen. Das ist aber keine Umkehrung der Verhältnisse oder Benachteiligung. Das nennt sich Gerechtigkeit und ist die Umsetzung dessen, was wir als demokratische Gesellschaft in der Verfassung verankert haben.

Sie plädieren für das Erreichen der Utopie auf demokratischem Weg. Was braucht eine Utopie, eine Praxis der Kritik, damit sie nicht totalitär, absolut und gewaltvoll wird?

Das ist eine grosse Frage. Ich denke, es ist sehr wichtig, selbstkritisch zu bleiben und die Gefahr des Umschlagens der eigenen Ideen in Dogmatismus ernst zu nehmen. Wir müssen verhindern, dass sich Wortführerinnen mit einem toxischen Machtstreben durchsetzen und Bewegungen kapern. Und wir müssen auf jeden Fall verstärkt über mediale Logiken nachdenken, also über die Bedingungen, unter denen wir sprechen. Da spielen Social Media eine gefährliche Rolle: Positionen, die polarisieren, die polemisch oder dogmatisch sind, werden bevorzugt und gefördert. Die Frage ist: Wie können wir in progressiven Bewegungen wirklich vielstimmig bleiben? Radikale Demokratie, das heisst die Partizipation von vielen Verschiedenen, ist für emanzipatorische Projekte sehr zentral. So bleiben Bewegungen sich selbst unbehaglich und müssen mit Widersprüchen umgehen, können diese einbinden und aushalten, statt sie zu homogenisieren. Diese Arbeit müssen wir leisten, Verständnis schaffen, überzeugen. Wir können nicht einfach sagen: Oh, du checkst halt Feminismus nicht, du bist blöd. Wir müssen so lange diskutieren und die Ideen zur Disposition stellen, bis sie verstanden oder auch angepasst werden. Da war ich früher sehr arrogant und sah manche halt einfach als ewiggestrig, und fertig.

Für mein Buch habe ich zu Rojava recherchiert, dieser kurdischen Bewegung des demokratischen Konföderalismus, die sicher auch nicht perfekt ist, die ich aber doch beachtlich finde. Das Ziel ist es, in Rojava eine multi­ethnische, multireligiöse und basisdemokratische Gesellschaft aufzubauen, nach dem Modell des demokratischen Konföderalismus. Diese Demokratie «von unten» soll die politische Teilhabe wirklich aller gewährleisten. Eine gerechte Gesellschaft kann, so die Annahme, nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch wirklich von allen partizipativ getragen und verstanden wird. Dabei gilt ein dezentralistisches Prinzip zur Verhinderung von Machtballung. Sämtliche Führungspersonen werden regelmässig wieder ausgewechselt. Man will also keine Revolution top-down, sondern radikale Demokratie, dezentralisierte Strukturen und eine Demonopolisierung von Macht.

Das bedeutet ein dauerndes Diskutieren, Streiten, Aufklären – sehr viel Arbeit. Alle Positionen werden zudem immer gemeinsam von Männern und Frauen ausgefüllt. Das ist für mich ein zentraler Punkt: etwas salopp gesagt, niemals Männer alleine an die Macht zu lassen. Ich finde den demokratischen Konföderalismus spannend, weil er radikal versucht, das Machtstreben Einzelner zu verhindern.

Als Wissenschaftlerin und Autorin ist Ihre kritische Praxis in erster Linie das Schreiben und das Lesen. Welches Potenzial hat das – in Zeiten von Krieg, Klimakatastrophe, Polarisierungstendenzen?

Ich muss sagen, dass ich in den letzten Monaten mit meiner Arbeit immer wieder an Grenzen gestossen oder in Sinnkrisen gestürzt bin. Ich habe mich angesichts der zunehmenden weltweiten Krisenverhältnisse, angesichts von Spaltungen, Kriegen, schrecklicher Gewalt und Hass gefragt, was Schreiben und Denken bewirken sollen. Es gab viele Momente, in denen ich nicht mehr die Kraft aufgebracht habe, mich selbst davon zu überzeugen, dass Schreiben jetzt noch wichtig sein könnte, oder davon, dass es angemessen wäre, ein Buch zu veröffentlichen, dazu ein Buch, das sich mit Solidarität befasst. Wer bin ich denn, jetzt über Solidarität und Verbundenheit zu schreiben? An besseren Tagen hoffe ich doch, dass Schreiben vielleicht sinnvoll ist. Ich weiss, dass es zwar Krieg und Gewalt sicher nicht direkt zu stoppen vermag und auch nicht die Zerwürfnisse oder Spaltungen. Aber ich hoffe, dass Schreiben und Lesen eine Art Gegenraum zu Polarisierung und Härte sein kann. Natürlich sind auch Worte manchmal gewaltvoll und spaltend, aber im besten Fall ist Schreiben Interaktion, ein In-Kontakt-­Treten mit Lesenden, mit anderen Schreibenden und Denkenden. Schreiben steht daher für mich für Öffnung statt für Grenzziehung. Auch Lesen bedeutet im besten Fall, sich für Weltanschauungen und das Denken anderer Menschen zu öffnen.

Die Neuen Wege feiern in diesem Jahr die Pazifistin und Frauenrechtlerin Clara Ragaz. Wie kann ein kritisches Erinnern an eine Frau wie Clara Ragaz aus Ihrer Perspektive aussehen?

Die Frage, wie ein Nachdenken über Frauenfiguren und Frauenbeziehungen gehen kann, war für mein Buch wichtig. Mir ist aufgefallen, wie sehr die Erinnerung an Frauen immer wieder gekappt und unterbrochen wird. Dadurch geht das Gefühl der Verbundenheit mit Frauen und auch mit Geschichte verloren, und Frauen haben das Gefühl, Geschichte hätte nichts mit ihnen zu tun. Diese Amnesie kreiert eine historische Unverbundenheit, als wäre jede feministische Emanzipationsbewegung die erste ihrer Art, die dann das Rad wieder neu erfinden muss. Darum ist es wichtig, an Vorgängerinnen zu erinnern. Wichtig ist es aber auch, keine sauberen Ikonen zu kreieren: Alle Menschen sind fehlerhaft, alle haben auch Dinge gesagt oder getan, die in einer späteren Zeit als problematisch gelten. Wir müssen der Sehnsucht nach einer zweifelhaft reinen Figur, die wir alle umstandslos und kritiklos bewundern können, entgegenhalten. Ferner: Wenn wir Heldinnen feiern, dann laufen wir Gefahr, dass die Netzwerke und Frauenbeziehungen unsichtbar werden. Die Heldinnen erscheinen als Einzelne, als heroische Ausnahme, losgelöst von ihrem Kontext. Dieser Singularitätslogik und Einmaligkeitserzählung müssen wir widerstehen. Die Netzwerke waren nötig, damit diese Frauen überhaupt handeln konnten. Erst so werden die Vorgängerinnen anschlussfähig: Sie sind nicht Ausnahmeerscheinungen. Veränderung geschieht gerade durch das stetige, oft unermüdliche und nicht öffentliche Handeln alltäglicher Frauen beziehungsweise queerer Menschen. Die Heldinnenerzählung lässt die Veränderung als Ausnahme in einer Ausnahmezeit erscheinen. So erscheinen revolutionäre Zeiten immer schon als etwas, das vorbei ist und nicht in der Gegenwart passiert. Aber diese Zeiten sind nicht vorbei, wir sind dauernd mittendrin: Die Revolution ist in vollem Gang.●

Franziska Schutzbach, *1978, ist Geschlechterforscherin, Soziologin und Autorin feministischer ­Sachbücher. Im Oktober erscheint ihr neues Buch ­Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche ­Solidarität die Gesellschaft verändert.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.