Wir schreiben diese Kolumne in der Kalenderwoche 25. Sich wiederholende Schlagzeilen, entsetztes Lesen, Wut und Fassungslosigkeit, Trauer – und auch Angst: In der ersten Jahreshälfte 2025 verzeichnet die Schweiz 18 Femizide. Bis Sie diese Ausgabe in den Händen halten, werden es wohl mehr sein. Ungefähr alle zehn Tage wird in der Schweiz eine Frau getötet. Anders als manche Medien diese Gewalttaten beschreiben, handelt es sich nicht um Einzelfälle, um Familientragödien, um Beziehungsdramen. Auch wenn die Täter in der Regel aus dem nahen sozialen Umfeld der Opfer kommen, haben diese Fälle Struktur und Kontext: Ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, fehlendes Problembewusstsein in Politik und Gesellschaft und entsprechend wenig Ressourcen und Mittel, die zum Schutz von Frauen und Flinta-Personen (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nonbinäre, trans und agender Personen) bereitgestellt werden. Oder wie es die NGO Brava prägnant formuliert: «Betroffene von Gewalt an Frauen haben eines gemeinsam: Sie erfahren Gewalt aufgrund des Geschlechts bzw. von Geschlechtervorstellungen. Diese Gewalt ist sowohl Resultat als auch Garantin der ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern.»
Femizid ist aber in der Schweiz, anders als in Zypern, Malta oder Kroatien, kein eigener Straftatbestand. Auch im öffentlichen Diskurs setzt sich der Begriff erst langsam durch. Die Zahlen zeigen aber erschütternd: Für geschlechtsspezifische Gewalt – in ihrer extremsten Ausformung Femizid – tragen wir kollektiv die Verantwortung. Sie betrifft uns alle. Die Schweiz hat 2017 das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Istanbul-Konvention, unterzeichnet. Die Istanbul-Konvention definiert geschlechtsspezifische Gewalt als Menschenrechtsverletzung. Die Staaten verpflichten sich, geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt zu bekämpfen und die Rechte der Gewaltbetroffenen auf Unterstützung und Schutz durchzusetzen.
Für die Umsetzung der Istanbul-Konvention setzen sich auf vielen Ebenen engagierte Personen ein: Nebst dem offiziellen Monitoring wird die Umsetzung von verschiedenen NGOs, die sich im Netzwerk Istanbul-Konvention zusammengeschlossen haben, überprüft und in Alternativberichten festgehalten; NGOs wie Frieda oder Brava leisten Aufklärungs- und Präventionsarbeit; Politiker*innen versuchen die Vorschläge der NGOs politisch umzusetzen; Expert*innen wie Agota Lavoyer oder Miriam Suter und Natalia Widla publizieren zum Thema; aktivistische Aktionen, wie die Einrichtung eines Gedenkortes in Zürich für die Opfer der Schweizer Femizide, machen im öffentlichen Raum auf das Thema aufmerksam und geben der Trauer Raum … All das geschieht nicht selten mit begrenzten Ressourcen, in ehrenamtlichem Engagement. Und bei allem Einsatz: Die Zahl der Femizide steigt weiter.
Alarmiert ist im Juni 2025 auch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und fordert gemeinsam mit dem Ausschuss für die Koordination der Umsetzung der Istanbul-Konvention (Bund, Kantone und Gemeinden) entschlossenes Handeln. «Baustellen» gibt es genügend: Frustrierend lange dauert die vom Bund koordinierte Einführung einer nationalen Notrufnummer 142: Nach fünf Jahren kommt sie vielleicht im nächsten Mai – vielleicht. In Bern wird die bewährte Notrufnummer «AppElle!», betrieben von den fachkompetenten Frauenhäusern der Region, im Oktober eingestellt – der Kanton setzt stattdessen auf die Telefonseelsorge und damit auf Ehrenamtliche. Einen guten Überblick oder eine zentrale Koordination der Massnahmen in den verschiedenen Kantonen gibt es ohnehin nicht.
Noch prekärer sieht es eine Ebene tiefer aus: bei den Gemeinden. Zum Beispiel Bülach: Innerhalb weniger Monate in den Jahren 2024 und 2025 verzeichnet die Kleinstadt im Zürcher Unterland mit ihren 25’000 Einwohner*innen und traditionell rechtsbürgerlicher Regierung drei Femizide und einen versuchten Femizid. Geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt ist im öffentlichen Raum in Bülach als Thema nicht präsent: Es gibt keine Informationen für Betroffene, keine Anlaufstellen sind sichtbar. Dabei müsste doch gerade an den Wohnorten, auf der Ebene, die am nächsten bei den Betroffenen ist, besonders viel passieren. Die Antworten auf eine Interpellation an den Stadtrat zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bülach und eine Interpellation an die Stadtpolizei sprechen Bände: Die Stadtpolizei verweist hauptsächlich auf die Kantonspolizei Zürich, die in solchen Fällen zuständig sei. Diese zeigt sich tatsächlich vorbildlich: mit einem gezielten Bedrohungsmanagement, mit der Ausbildung von Fachpersonal, mit der Erhebung spezifischer Daten. Allerdings: Wer in Bülach die Polizei aufsucht oder anruft, wird höchstwahrscheinlich zunächst an die Bülacher Stadtpolizei geraten. Ein Präventionsprogramm zur Sensibilisierung der Bevölkerung oder auch Opferhilfestellen vor Ort existieren nicht. Wie der Stadtrat formuliert: «Derzeit liegt in Bülach kein gesamtstädtisches Konzept zur Umsetzung der Istanbul-Konvention vor. Bisher wurde keine städtische Stelle bezeichnet und mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet, um ein solches Konzept zu erstellen sowie dessen Umsetzung zu koordinieren.»
Warum ist das so? In der Regel gibt es vor Ort, gerade unter dem aktuellen Spardruck und in rechtsbürgerlichen Gemeinden, kaum Ressourcen, kaum Mittel für Fachstellen und Fachpersonal. Kurz gesagt: Das Thema steht nicht zuoberst auf der Agenda, es ist zu teuer, zu wenig wichtig. Das Problembewusstsein fehlt. Ob eine Gemeinde selber aktiv wird, ist dem Zufall überlassen. Doch: Föderalismus darf keine Ausrede sein, denn auch auf Gemeindeebene braucht es Konzepte, Sensibilisierung und Bildung, solide Ausbildungen für Erstkontakte wie die Stadtpolizei und ausgebauten Opferschutz. Auch hier sind ein Bedrohungsmanagement und Täterarbeit nötig. Denn Femizide passieren im Nahumfeld, im Zuhause, in der Gemeinde.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
*1995, ist verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Neuen Wege, Religionswissenschaftlerin und SP-Politikerin in Bülach.