GM: Matthias, wofür möchtest du mehr Zeit haben bei den Neuen Wegen?
MH: Ich wünsche mir mehr Zeit für Diskussionen in der Redaktion, für Recherchen, für das Aufnehmen von Reaktionen und die Verlinkung von Debatten, nachdem ein Heft erschienen ist. Der neue Heftrhythmus gibt uns diese Zeit – hoffentlich! – Befürchtest du, dass die Lesenden diese Veränderungen als Abbau, als Sparmassnahme missverstehen?
GM: Viele Leser*innen melden uns zurück, dass sie zu wenig Zeit hätten für eine Ausgabe, für ein Thema, wenn nach einem Monat schon das nächste folgt. Darauf reagieren wir mit den bevorstehenden Änderungen. Damit setzen wir einen Kontrapunkt zur schnellen und oft auch oberflächlichen Information: Die Themen, die wir auswählen, wollen wir qualitativ gut und sorgfältig bearbeiten. Wir sind kein tagesaktuelles Printmedium, welches alle Ereignisse abdecken möchte. – Worauf freust du dich rund um das neue Heftkonzept?
MH: Ich bin besonders neugierig auf die zusätzliche Kolumne. Diese Form der kürzeren Texte spricht viele Lesende an. Unter dem Rubrikentitel «Zur Welt(en)lage» als Einzelperson aktuelle Analysen zu verfassen, ist natürlich ein unmöglicher und etwas selbstironischer Anspruch. Leonhard Ragaz hat aber vor hundert Jahren genau das gemacht. Daran anzuknüpfen finde ich spannend: Diese gross angelegten und allgemeingültigen Narrative einzelner Männer funktionieren allerdings nicht mehr. Vielstimmigkeit, Ambiguitätstoleranz und die Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Perspektive sind heutige Herangehensweisen an Weltdeutung. Und trotzdem bleiben wir Leonhard Ragaz und seinen sozialen, sozialistischen Überzeugungen gerade in der Übersetzung in heutige Kontexte treu: Die Kolumne soll emanzipatorischen, befreienden Perspektiven Platz bieten. – Und worauf bist du besonders gespannt?
GM: Ein Schwerpunkt unserer Arbeit sind für mich die Veranstaltungen. In Kooperation mit verschiedenen Institutionen – grösseren und kleineren – haben wir in den letzten Jahren Debatten, spielerische Nachmittage, Filmvorführungen, Vorträge, Apéros und Wanderungen organisiert. Das macht mir grosse Freude und ist mir wichtig. Die direkte Begegnung mit Leser*innen und das gemeinsame Erleben, das soll mehr Zeit bekommen. Konkret freue ich mich auf das Jubiläumsjahr rund um den 150. Geburtstag von Clara Ragaz-Nadig. Das Festival im Oktober 2024 ist ein Höhepunkt des nächsten Jahres. Auch dieses Jubiläum zeigt: Die Neuen Wege stehen in dieser langen Tradition, sie haben ganz viel Zeit hinter sich und – davon bin ich überzeugt – ganz viel Zeit vor sich. Da könn(t)en wir den Moment, die Gegenwart eigentlich ruhig(er) nehmen, nicht?
MH: Ja, das müssen wir. Das kommt uns persönlich zugute, aber bestimmt auch den Neuen Wegen. Wir planen in der Redaktion die Schwerpunkte längerfristiger als früher. Das gibt uns Zeit. Wir werden zum Beispiel die Ausgabe von Mai/Juni 2024 dem Thema «Eritrea in der Schweiz» widmen. Es leben so viele Menschen aus diesem Land hier. Wir möchten mit einzelnen sprechen, Neues erfahren, Zusammenhänge verstehen, Wissen und Begegnungen vermitteln. Das Spannungsfeld zwischen emanzipatorischer Politik und religiöser Inspiration und Identität – darauf liegt ja der besondere Fokus der Neuen Wege –, verändert sich ja in unserem Land mit den geflüchteten und zugewanderten Menschen immer wieder enorm. Das bildet sich noch zu wenig ab in unserer Arbeit. Solche Entwicklungen in unserer Redaktion und bei der Gestaltung einer Heftausgabe brauchen Zeit.
GM: Die etwa zehn Mitglieder der ehrenamtlich mitarbeitenden Redaktion haben ganz unterschiedliche Erfahrungen und Möglichkeiten im Umgang mit Zeit und Engagement. Das ist eine Herausforderung. Die Mitarbeit an den Neuen Wegen soll nicht nur für Freiberufliche und Rentner*innen ohne familiäre Care-Verpflichtungen gut möglich sein. Da sind wir auf der Suche nach niederschwelligen Formen für eine trotzdem verbindliche Zusammenarbeit. Es geht auch hier um langfristige und sorgfältige Beziehungen. Das ist in einer vielstimmigen Redaktion, die konfrontiert ist mit den Fragen dieser Zeit, eine Herausforderung.
MH: Unser Projekt wird von vielen getragen, auch von einem tollen Vorstand unserer Trägerschaft, dem Verein «Freund*innen der Neuen Wege». Die Zusammenarbeit und Rollenklärungen in diesem Kollektiv nehmen Zeit in Anspruch, das ist vielleicht gegen aussen nicht immer sichtbar. Ich empfinde diese Organisationsform als sehr bereichernd und lebendig, aber anspruchsvoll. Ich komme auch an Grenzen. Wie schwierig findest du es, Zeit für Arbeit, Zeit für «zuhause» oder Carearbeit und Zeit für sich selbst auszubalancieren?
GM: Auch für uns drei, die bei den Neuen Wegen bezahlte Stellen haben, sind Arbeitslast, Tempo und Zeitknappheit ein Problem: Man kann nicht voll leben von der Arbeit für die Neuen Wege. Eine andere Lohnarbeit daneben ist notwendig. Unser Modell hat sehr schöne Seiten: Ich teile meine Zeit relativ frei ein und bin in meiner Arbeit sehr selbstbestimmt. Gleichzeitig ist die Gefahr der «Selbstausbeutung» immer da: Die Identifikation mit den Neuen Wegen ist hoch, und es fällt schwer, auf die eigenen Grenzen zu achten. Das sind Fragen, die viele Menschen kennen, insbesondere wenn sie in idealistischen Projekten arbeiten.
MH: Ja, wir dürfen nicht einfach funktionieren. Wir müssen immer wieder innehalten. Gerade aus dem, was aus diesen Pausen und aus dem Nachdenken über das, was wir tun, entsteht, können wir vielleicht ein kleines bisschen beitragen zur Transformation der leistungs- und wachstumsgetriebenen Welt, die, so wie sie ist, überhaupt keinen Bestand hat. Wir brauchen die Pausen, die leeren Momente, die offenen Zeiten, die spannenden Neuanfänge.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.