Luzia Sutter Rehmann liest das Markusevangelium in seinem historischen Kontext, am Ende des römisch-jüdischen Krieges (66 bis 70 n. Chr.). Die Theologin verortet das Markusevangelium in ihrem Buch Dämonen und unreine Geister. Die Evangelien, gelesen auf dem Hintergrund von Krieg, Vertreibung und Trauma in der Gattung der Traumaliteratur. Der Erzählduktus des Markusevangeliums «schafft Raum für Unsagbares und erinnert es, ohne das Trauma zu erzählen, macht es präsent und teilbar, ohne daran zu rühren. Indem das Evangelium diesen Raum des Schreckens andeutet, beginnt es gleichzeitig, aus dem Exil des Schweigens herauszukommen. Damit stellt es Sprache bereit für das, was nicht erzählbar ist» (S. 92). Teilweise atemlos und bruchstückhaft setzt sich das Evangelium zusammen, geschrieben um das Ende eines mit massiver Gewalt an der Zivilbevölkerung geführten Krieges. Die Menschen hatten schon davor unter strukturell bedingter Verarmung und Landenteignung gelitten.
Dämonen – das zentrale Thema des Buchs – scheinen überall ihr Unwesen zu treiben. Auffällig oft kommt im Markusevangelium das Wort eremos vor, das traditionell mit «Wüste» übersetzt wird. Sutter Rehmann legt aber dar, dass eremos eigentlich Verwüstung bedeutet. Somit weist das Wort darauf hin, wie blühende Orte zu Unorten gemacht wurden: durch menschengemachte Gewalt wie durch Aushungernlassen von Städten, Vergewaltigen, Vertreiben, Ermorden, Kreuzigen. So entstanden Orte, an denen Tiere und Menschen schutzlos zerstörerischen realen Mächten ausgeliefert waren. Orte, die von oft traumatisierten und isolierten Menschen bewohnt wurden, von Menschen, die dämonischen Kräften ausgesetzt waren.
Viele Menschen verloren durch Vertreibungen ihr lebensspendendes Land. Für diese Vertreibungen wird das griechische Wort ekballein verwendet: Das Verb wird in den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas auch in Erzählungen der Dämonen-«Austreibungen» benutzt. «Austreiben» aber erweist sich als gänzlich falsche Übersetzung des Verbs, wie Sutter Rehmann darlegt, weil mit Austreiben etwas gemeint ist, das vom Innern des Menschen nach aussen getrieben wird. Diese Psychologisierung oder Spiritualisierung entspricht dem biblischen Denken nicht: Ekballein wird zum Beispiel für das Hinauswerfen aus dem Paradies oder die Vertreibung Kains gebraucht. Der Mensch wird aus einem schützenden und nährenden Land hinausgeworfen, vertrieben. Mit «vertreiben» ist das Verb ekballein auch in den evangelischen Dämonengeschichten zu übersetzen. Dämonen werden nicht aus dem Menschen, sondern aus dem verwüsteten, verunreinigten und damit von Dämonen geplagten Land vertrieben: von Orten, an denen trauernde und traumatisierte Menschen leben in Erinnerung etwa an ungerecht getötete und liegen gelassene Menschen.
Sutter Rehmann versteht unter Dämonen keine bösen Geister oder Individuen. Das widerspräche den biblischen Texten. Sie bezeichnet sie eher als Todesschatten, als Unsägliches, das Zerstörung beinhaltet. Die Autorin ist sehr vorsichtig in der Definierung des Begriffs. In den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas fällt eine grosse Dämonendichte auf. Sie sind überall, unberechenbar und mordlustig. Ganz im Gegensatz zum biblischen Gott, der in den Evangelien als zuverlässig, den Armen zugewandt, als Gerechtigkeit suchend dargestellt wird und wie ein Schutzwall gegen alle Verwüstungen steht.
Wie schafft es das Markusevangelium, Menschen aus ihrer Isolation zu befreien? Wie wird aus Einzelnen eine Weggemeinschaft, die sich erinnert und auf die traumatisierten Menschen heilend wirkt? Das unbedingt empfehlenswerte Buch von Luzia Sutter Rehmann gibt vielfältige Antworten. Es eröffnet befreiungstheologische Räume und verändert den Blick auf scheinbar bekannte Begriffe und Geschichten.
Die biblischen Texte werden auf eine erschreckende Weise relevant für das 21. Jahrhundert, in dem Vertreibung, Verwüstung, Traumatisierung viele Menschen betrifft, die ihre Schutzorte verloren haben und gewalttätigen Mächten ausgesetzt sind. Sutter Rehmann zeigt auf, wie die Menschen als daimonizomenos, als von Dämonen Besetzte, in den Evangelien mit Mächten ringen, keine Worte finden, sich nonverbal aber verständlich machen, indem sie auf Trauerriten zurückgreifen. Sutter Rehmanns Buch begibt sich in die Grausamkeit der Gegenwart der Niederschrift des Markusevangeliums und zeigt auf, wie in diesem biblischen Buch Dämonen und Trauma an Wirkungsmacht verlieren, Menschen aus ihrer Isolation treten, Wege wieder geöffnet werden und gemeinsam erinnernd weitergegangen werden kann.●