Kürzlich konnte ich an einem Podiumsgespräch zu «(feministischen) Identitätspolitiken» teilnehmen. In einem Punkt waren wir GesprächspartnerInnen uns einig: Identitätspolitiken haben eine ungebrochene Wichtigkeit in emanzipatorischen Bewegungen. Für das Publikum war das überraschend, so die Rückmeldung. Identitätspolitiken bezeichnen politisches Handeln im Namen und Interesse einer Gruppe von Menschen, die anhand bestimmter Identitätsmerkmale zu dieser Gruppe gezählt werden. Am Beispiel feministischer Identitätspolitiken zeigt sich deren Problematik deutlich: Binnenfeministische und queere Debatten kritisieren jene Politiken, die im Namen «der Frau» agieren. Implizit beziehen diese sich häufig nur auf bestimmte Frauen und schliessen schwarze, lesbische, armutsbetroffene und trans* Frauen aus, oder machen diese unsichtbar. Die Kritik an feministischen Identitätspolitiken betont auch, dass die Nutzung einer bestimmten Kategorie diese festschreibt und festigt. Gibt es also oder, vielmehr, muss es ein Jenseits der Identitätspolitik geben?
Während des Podiums kamen wir auch auf Gefühle zu sprechen. Dabei stellte sich die Frage nach dem Potenzial von Gefühlen im Hinblick auf Identitätspolitiken und Solidarität. Meine Antwort blieb in der Schnelle eher oberflächlich. Sie hat mich auch nach dem Podium nachhaltig beschäftigt.
Die Rolle von Gefühlen bei der Bildung von Identitäten ist zentral. Sie prägen die Art und Weise, wie wir uns zueinander ins Verhältnis setzen. In den Affect Studies werden Gefühle nicht als individuelle Empfindungen verstanden, sondern als kulturelle und soziale Praxen. Wenn ich also beispielsweise abends alleine nach Hause gehe, hinter mir eine Person höre und dann Angst bekomme, sich mein Magen verkrampft, mir der Schweiss ausbricht, dann hat das auch damit zu tun, dass ich als Frau sozialisiert bin und werde. Immer wieder wird mir suggeriert, der öffentliche Raum sei gefährlich für mich. Ich sei da draussen anfälliger für Gewalt als meine männlichen Mitmenschen, insbesondere für sexuelle Gewalt. Diese Angst ist physisch und real, auch wenn mir «da draussen» noch nie das passiert ist, wovor mich die Gesellschaft zu schützen vorgibt. Und sie ist Teil meiner Identität.
Gefühle spielen aber auch für Widerstand eine zentrale Rolle. Geteilte Gefühle können mobilisieren – ohne Anrufung einer kollektiven Identität, aber doch mittels einer kollektiven Erfahrung. Christa Binswanger, bei jenem Podiumsgespräch im Publikum, wies auf den Nutzen von affektiver Dissonanz hin. Sie beschrieb diesen Gefühlsmoment – Wut, Schmerz, Irritation – als Dissonanz zwischen dem Erleben des eigenen Seins und den Möglichkeiten dieses Seins: «Wut über das was ist, Hoffnung, dass es anders werden kann.». Das Erleben dieser Dissonanz kann zum Ausgangspunkt von Aktion, Widerstand werden – und von Solidarität.
Das bedeutet auch, gesellschaftlich negativ konnotierte Gefühle zu besetzen und sich darin mit anderen zu verbünden: den Happiness-Flow am Familienessen beim rassistischen Witz zu durchbrechen und die Spassverderberin zu sein, oder genauer hinzuschauen, was die erlebte Eifersucht mit dem gesellschaftlichen Ideal der Monogamie zu tun hat. Den Lebensentwurf gesellschaftlichen Skripten von Glück, zum Beispiel «Familienglück», entgegenzusetzen. Gefühle können gängige Kategorien unterwandern: Sie sind oft weder positiv noch negativ, weder nur gesellschaftlich noch nur individuell.
Religion und Gefühl treffen sich an einem spannenden Punkt, wo die Gesellschaft und das kapitalismusgeprägte Denken Rationalität als oberstes Gut handeln. Wenn Gefühlserleben und Spiritualität nicht als «das Gegenteil von vernünftig» verstanden werden, sondern als Kraft menschlichen Lebens, wenn es für einmal nicht darum gehen muss, identitätspolitisch die Religionszugehörigkeit in einer religionskritischen bis -feindlichen Linken oder beispielsweise gegenüber einer islamfeindlichen Gesellschaft zu verteidigen, dann beinhalten beide, Religion und Gefühl, ein transformatives Potenzial.
Identitätskategorien können widersprüchlich, komplex, verqueert und verwoben sein, wenn es um Gefühlszustände und spirituelles Erleben geht. Oder sie werden, zumindest für einen visionären Moment obsolet. Und diese Momente sind ganz alltäglich, ganz greifbar, naheliegend und menschlich: Ich erlebe sie beispielsweise manchmal beim Tanzen. Oder wenn sich in der Trauer die unterschiedlichsten Menschen finden. Oder wenn noch jemand den rassistischen Witz beim Familienessen eher daneben als lustig findet.
Im Wissen darum, dass Identitätskategorien eben genau das sind, Kategorien nämlich, die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Realität abstrahieren, vereinfachen und vereinheitlichen, lässt sich mit Patricia Purtschert sagen: «Es gibt kein Jenseits der Identitätspolitik.» Aber es gibt vielleicht eine diesseitige Vision, die jenseits der Kategorien liegt.●