Angehimmelte oder Frühauf­­steher*innen der Geschichte?

Geneva Moser, Andreas Mauz, Dieter Thomä, Jakob Tanner, 21. Oktober 2025
Neue Wege 6.25

«Der Held» hat quer durch die Geschichte eine beispielhafte Karriere gemacht: von antiken Göttererzählungen über die Militärpropaganda bis zu Befreiungsbewegungen. Brauchen wir heute noch Held*innen? Oder sind sie durch Krieg und zweifelhafte Männlichkeitsbilder unrettbar kontaminiert? Ein Philosoph und ein Historiker sind sich uneinig.

Dieter Thomä, verraten Sie uns Ihre frühesten Held*innen?

DT Da denke ich in erster Linie an literarische Figuren. Beispielsweise an ein Kinderbuch: Was ist los mit Pondelli? Ich habe das Buch wahrscheinlich über fünfzig Jahre nicht mehr gelesen und weiss noch unglaublich viele Details. Ein kleiner Junge, der begeistert ist vom Zirkus und ein begabter Akrobat, wird vom Seilkünstler Pondelli in die Lehre genommen. Dann gibt es irgendein Unglück, und Pondelli sieht nichts mehr und ist oben im Zirkuszelt gefangen. Denn die Brille, die er unter seinem Affenkostüm trägt, ist zerbrochen. Da klettert der kleine Lehrling hoch und rettet ihn. Dieser Junge war für mich eine Art Held: erstens dieses Weggehen von zu Hause, zweitens dieses Über-sich-Hinauswachsen, also das Retten des Lehrmeisters, und drittens das Bescheidene. Denn niemand feiert ihn als Helden. Das Zirkuspublikum denkt, die Rettungsaktion sei Teil der artistischen Nummer.

Was waren Ihre Kindheitsheld*innen, Jakob Tanner?

JT Auch in meiner Jugend gab es natürlich Heldengeschichten: aus den Nibelungen, der Schweizer Nationalmythologie oder bei ­Winnetou. Das hat bei mir aber nicht so gegriffen. Ich dachte immer: Diese Helden haben doch irgendeinen Trick, den man durchschauen kann. Ich blieb skeptisch. In meiner Jugend war ich  typisch für die 1950er Jahre  sehr technik­affin und wollte zum Beispiel herausfinden, wie der Fernseher aufgebaut ist, und solange ich nicht wusste, wie diese Kathodenstrahlröhren funktionieren, war ich nicht zufrieden. Ich las Sci-Fi-Romane und interessierte mich auch da wenig für die Superkräfte, sondern eher für das, was mit Sachverstand zu tun hatte. Das Misstrauen gegenüber Held*innen ist geblieben.

Versuchen wir das Heroische genauer zu fassen. Was macht es aus?

DT Als Philosoph muss ich definieren, nicht nur Beispiele bringen. Meines Erachtens gibt es drei Aspekte, die entscheidend sind. Erstens: Held*innen müssen sich irgendwie in Gefahr bringen. Das unterscheidet sie vom blossen Vorbild. Sie müssen sich, zweitens, für eine grosse Sache respektive für eine gute Sache einsetzen. Daran merkt man schon, dass nicht jeder Held gut ist. Der Einsatz für die nationale Ehre macht vielleicht jemanden zum Helden. Aber das ist nicht unbedingt eine gute Sache. Der dritte Aspekt: Held*innen müssen in irgendeiner Weise über sich und damit auch über die anderen hinauswachsen  in einer Weise, von der sie nichts geahnt haben. Sie unterscheiden sich, sie machen einen Unterschied.

Was meinen Sie zu diesem Definitions­vorschlag, Jakob Tanner?

JT Meine Perspektive ist die des Historikers. Im 19. Jahrhundert war noch von «Heroismus» und «heroisch» die Rede. Dann kommt im 20. Jahrhundert «das Heldentum» auf. Am häufigsten wurde dieses Wort während des Ersten Weltkriegs und dann wieder zwischen 1937 und 1943 verwendet, also in der Hochphase des nationalsozialistischen Eroberungs- und Verfolgungsfeldzugs. Aus historischer Sicht lässt sich ein Wort nicht von solchen Diskurskonjunkturen ablösen. Den «Helden» als Einzelfigur gab es schon früher, «Halul» ist germanisch und bedeutet «der freie Mann» oder «der Krieger». Das ist stark männlich konnotiert. In der Theoriebildung rund um den Helden ist sicherlich das Buch Händler und ­Helden des deutschen Soziologen Werner Sombart zentral. Es erschien 1915 und zeichnet das Bild der krämerischen, profitgierigen Engländer, die zwar ein stabiles parlamentarisches Regierungssystem hätten, denen es aber an der basalen Eigenschaft fehle, über sich hinauszuwachsen. Die Deutschen hingegen seien zum Heldentum berufen. Diese Energien will ­Sombart mitten im Ersten Weltkrieg mobilisieren. Einleuchtend finde ich den Militär­theoretiker Carl von Clausewitz, der hundert Jahre vor Sombart sagte, soldatisches Heldentum habe mit Freiheitsdrang nichts zu tun, sondern mit militärischer Technik: Soldaten sind in einem despotischen Schreckensregime disziplinarisch eingespannt und können nicht anders als mitmachen. Helden sind also Teil der Kriegspropaganda: Die Kriegspartei, die die menschlichen Ressourcen über Heldenideale besser mobilisieren kann, ist im Vorteil. Vor diesem Hintergrund ist der Held eine belastete und kontaminierte Figur.

DT In der Analyse stimme ich Ihnen zu: Die Heldenfigur ist historisch stark mit dem Kriegs­helden identifiziert worden, und damit auch mit dem Mann. Ich gehöre zu einer Generation, in der eigentlich klar war, dass der Helden­begriff nach 1945 komplett ungeniessbar und abstossend war  gerade in Deutschland. Die Gründe dafür liegen eben in den beiden Weltkriegen. Für mich ist aber die Frage interessant, wie wir damit heute umgehen: Richten wir uns im postheroischen Zeitalter ein? Oder gibt es eine plausible Idee vom Heldentum, die auch heute noch gebraucht werden kann? Gehören die Idee des Helden und auch die Praktiken, die damit verbunden sind, auf den Müllplatz der Geschichte? Oder gibt es nicht gerade heute konkreten Bedarf? Entscheidend ist es, den Helden zu «entmännlichen», ihn für alle Geschlechter zu öffnen und die Bindung an den Krieg zu lösen. Aber rein lebenspraktisch gibt es sehr wohl diese Situationen, in denen man heldenhafte Taten vollziehen muss.

Bleiben wir vor der Aktualisierung noch einen Moment bei der Geschichte der Held*innen – Helden sind ja schon in der antiken Dichtung und Mythologie zentral. Denken wir an den Haudegen Odysseus oder an Herkules …

DT Interessanterweise haben Sie in Bezug auf die Antike einen Namen nicht erwähnt, der eigentlich erwartbar wäre, nämlich Antigone. Sie wird eigentlich als die Held*innenfigur überhaupt ausgerufen. Ihre menschliche und zugleich übermenschliche Tat ist leicht zu übersehen: Antigone begräbt ihren toten Bruder Polyneikes. Da wird aber nicht kraftvoll ein Grab ausgehoben. Es heisst in ­Sophokles’ Tragödie nur, dass sie ein bisschen Staub über die Leiche verteilt. Heldentum muss also nichts Martialisches und Brachiales haben. Antigone ist zudem eine Heldin, die verliert, die ihr Leben hergibt. Sie vereint in sich Randständigkeit, Umstrittenheit und Unbedingtheit im Einsatz für ein Ziel. Das macht sie zur Heldin. Natürlich könnte man das auch dickköpfig nennen. Sie wird in der Rezeption auch entsprechend kritisiert. Das zeigt, dass sich an Heldenfiguren Gesellschaftsbilder und Selbstverständnisse reiben. Der Streit darüber, wer ein*e Held*in ist, ist ein Streit darüber, wer die Gesellschaft repräsentiert: Es geht um das Bild der Gesellschaft.

Wohin gehören eigentlich der Antiheld respektive die Antiheldin in dieser ganzen Konstellation? Wir denken uns Held*innen ja meist als Macher*innen. Sind Antiheld*innen also passiv? Nicht Held*innen des Tuns, sondern des Lassens?

JT Held*innen sind Projektionen, da liegt die Negation nahe: Diejenigen, die den Antihelden konstruiert haben, merkten, dass Helden zwar etwas Erhabenes und Erhebendes haben, dass «der Held» aber auch eine Stresskategorie ist. Man kommt schlecht an ein überhöhtes Held*innen-Bild heran. Held*in sein ist ein wahnsinniger Aufwand. Die Antiheldin und der Antiheld sind also Kreationen, die wie du und ich im Alltag angesiedelt sind und so die Identifikation erleichtern.

Kontaminiert durch die Geschichte, stark männlich konnotiert, Stresskategorie – das klingt ganz so, als müssten wir uns von den Held*innen verabschieden. Leben wir, wie manche meinen, in einem post­heroischen Zeitalter?

DT Die Idee der postheroischen Gesellschaft halte ich für eine Lebenslüge. Sie ist verständlich vor dem Hintergrund der Kriegszeit und verführerisch im Sinne eines Einrichtens in einer Wohlstandsgesellschaft ohne Härten. Aber geopolitisch sieht es anders aus. Auch in einem ganz alltäglichen Sinn braucht es heldenhaftes Verhalten: Diese Momente, in denen man vor einer Herausforderung zögert und sich dann überwindet, kennen wir doch alle. Das ist für mich die Keimzelle von Held*innentum. Sie ist aus der Gesellschaft nicht wegzubekommen und absolut nötig. Ich denke beispielsweise an engagierte Politiker*innen irgendwo in ­Bayern oder Sachsen-Anhalt, die sich für Menschlichkeit gegenüber Ausländer*innen einsetzen und alle paar Wochen Katzenkot zugeschickt bekommen und die glücklicherweise trotzdem sagen: Ich lasse mich nicht kleinmachen!

JT Dem kann ich nur beipflichten  nur würde ich das «Zivilcourage» nennen, eine auf Solidarität und auf Kooperation mit anderen Menschen ausgerichtete Lebenshaltung. Das brauchen wir heute mehr denn je. Mit der Diagnose eines postheroischen Zeitalters kann ich ebenfalls wenig anfangen. Davon kann man ja nur dann sprechen, wenn man davon ausgeht, es hätte zuvor ein heroisches Zeitalter gegeben. Über verschiedene historische Phasen hinweg lässt sich aber die Inszenierung von Helden festzustellen. Bis heute ist der Held*innen-Begriff quicklebendig und wird politisch und kommerziell instrumentalisiert. So hat beispielsweise Fernando Henrique Cardoso, der ehemalige Präsident Brasiliens, 1996 das Huhn zum «Nationalhelden» erklärt: Die Hühner­wirtschaft war ein wichtiger Pfeiler seines Wirtschaftsprogramms. Ein anderes Beispiel ist der neue, eindrückliche Film von Petra Volpe mit dem Titel Heldin. Er dokumentiert eine Pflegefachfrau an der Arbeit, die angesichts der Überforderung wegen Personalmangels über sich hinauswächst. Mir ist da unwillkürlich das Theaterstück Das Leben des Galilei von Bertolt Brecht eingefallen, 1943 in der Schweiz uraufgeführt: «Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.» Wenn das Gesundheitswesen, ein essenzieller Bereich der Gesellschaft, völlig unterdotiert ist mit Ressourcen, kann die Lösung wohl nicht darin bestehen, dass die Mitarbeitenden sich ins Heldenhafte steigern müssen. Genau dafür will der Film sensibilisieren. Er will zu einer öffentlichen Diskussion über diese Unterfinanzierung und zum gewerkschaftlichen Widerstand anregen. Das halte ich für zielführender als die Heroisierung Einzelner.

DT Zivilcourage ist die beliebte Alternative zum Heroismus. Ich bin da, ehrlich gesagt, leidenschaftslos, ich denke aber, dass es sich um eine falsche Angst vor dem Held*innenbegriff handelt. Wenn etwas vier Räder, einen Motor und einen Kofferraum hat, dann ist es ein Auto  wenn jemand sich in Gefahr bringt, über sich hinauswächst und sich für das Gute einsetzt, dann ist es eine Heldin respektive ein Held. Da kann man dann gerne sagen, das sei kein Held, sondern ein Mensch mit Zivilcourage. Für mich spielt das keine Rolle  Hauptsache, es gibt diese Menschen! Gerade in der Nachkriegszeit gibt es Menschen, die Held*innen verkörpern: Rosa Parks, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Martin Luther King. Sie zeigen, dass sie für eine Bewegung wichtig sein können. Nicht als Herrscher, sondern um andere zu ermutigen.

JT Ich lehne den Begriff nicht aus Angst vor ihm ab, meine Ablehnung ist eher offensiv: Auch wenn der Held*innenbegriff offensichtlich nicht totzukriegen ist, taugt er meiner Meinung nach nicht mehr. Wir haben keinen Mehrwert davon, Einzelpersonen zu Held*innen zu stilisieren.

Was ist denn mit den Beispielen von Dieter Thomä? Gibt es in emanzipatorischen Bewegungen, in der Linken nicht Held*innen? Sehen Sie vielleicht Spezifika für linke Held*innen?

JT Es gibt viele dieser traditionellen sozialistischen Heldenbilder, den proletarischen Muskelprotz, der als Gegenbeispiel zum geknechteten, ausgemergelten Proletarier fungiert. In Zürich gibt es interessanterweise zwei Denkmäler der Arbeiter*innen: einerseits am Werdplatz den Arbeiter, der kraftvoll aufbäumend seine Ketten sprengt. Andererseits die Figurengruppe des Bildhauers Karl Geiser am Helvetiaplatz, das unspektakuläre Menschen zeigt, Kinder sind auch dabei. Es sind arbeitende Menschen wie du und ich. In meiner politischen Sozialisationsphase haben mich in der Linken immer diejenigen Menschen beeindruckt, die  wie etwa Karl Marx  ein ganzes Reich theoretischer Überlegung entfalten und daraus praktische Schlussfolgerungen ableiten konnten. Dass sie dann angehimmelt wurden, wie etwa der Aktivist Rudi Dutschke, haben sie mir eher suspekt gemacht. In einigen Ländern, von der damaligen Sowjetunion unter Stalin bis hin zu Venezuela heute, agieren die Helden an der Staatsspitze als grausame Diktatoren.

DT Will man Heldentum und linke Positionen vereinbaren, ist die Schlüsselfrage die nach der Gleichheit. Die herausgehobene Rolle der Held*innen ist eigentlich unvereinbar mit egalitären Positionen, die wiederum für linkes Denken konstitutiv sind. Kann es also keine linken Held*innen geben? Meiner Meinung nach schon. Gleichheit bedeutet nicht Gleichmacherei: Es gibt Situationen, in denen es Frühaufsteher*innen der Geschichte braucht, die etwas früher und schneller machen als andere. Die Frage ist, wie sie sich zum Rest der Gesellschaft verhalten. Da gibt es meines Erachtens zwei Typen: die Ermutigenden und die Entmutigenden. Platt gesagt sind die Entmutigenden im rechten Spektrum zu finden. Wenn Donald Trump sagt: «Ich bin der Einzige, der das Problem lösen kann», dann lautet die unausgesprochene Botschaft dahinter: Ihr seid Flaschen, ihr braucht jemanden wie mich. Ermutigende Held*innen hingegen setzen in die Hinterköpfe eine kleine, nagende Frage. Können wir nicht doch etwas bewirken, das wir uns nicht zugetraut haben? Held*innen gehen nur voraus  die Augenhöhe wird, zumindest gedanklich, wiederhergestellt. Aber es braucht zunächst diesen Unterschied zwischen Held*innen und anderen Menschen zur Ermutigung und zur Nachahmung. Er ist nicht per se demokratiefeindlich.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.

  • Andreas Mauz,

    *1973, ist Literaturwissenschaftler und Theologe und Teil der Neue Wege-Redaktion.

  • Dieter Thomä,

    *1959, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, wo er 20002023 lehrte. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher Warum Demokratien Helden brauchen (2019) und Post-. Nachruf auf eine Vorsilbe (2025). 

  • Jakob Tanner,

    *1950, ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, wo er zwischen 1997 und 2015 lehrte. Unter seinen Ver­­öffentlichungen finden sich die Bücher Macht, ­Medien und Materialität in der Moderne. Aufsätze zur Kulturgeschichte des Sozialen im langen 20. Jahr­hundert (2025) und Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert (2015).