Gassenarbeit ist keine Handels­beziehung

Zoé Kammermann, Matthias Hui, 13. April 2020
Neue Wege 4.20

Die Kirchliche Gassenarbeit Bern setzt sich anwaltschaftlich für Menschen ein, die durch fast alle Maschen fallen. Ist das auf Augenhöhe möglich? Und was ist eigentlich «kirchlich» an der Gassenarbeit? Begegnungen vor Ort.

Dienstagnachmittag an der Speichergasse 8 in Bern. Es regnet, ein paar Frauen drängen sich vor dem Eingang unter einen Schirm und rauchen. Sie haben sich getroffen, um über ihr Leben auf der Gasse zu schreiben. Aus diesen zweiwöchentlichen Schreibnachmittagen entsteht Mascara, das «Magazin für die Frau», das die Kirchliche Gassenarbeit Bern viermal jährlich herausgibt. Aus dem Innern des Raumes ertönt Hundegekläff. Die Frauen verstauen ihr Hab und Gut in Plastiksäcken und Umhängetaschen und verabschieden sich. Eine nach der andern verschwindet in die Dämmerung des regnerischen Abends.

Eva Gammenthaler arbeitet im Dreierteam der Kirchlichen Gassenarbeit: «Zu uns ins Büro können alle Menschen kommen: Wir verlangen keinen Ausweis, es gibt keine Altersbeschränkung, Hunde dürfen mit. Das führt anderswo zu Ausschluss.» Bei der Kirchlichen Gassenarbeit geht es nicht nur um einen offenen Raum und um Projekte wie das Mascara, die Sprechstunde einer Gassentierärztin oder juristische Beratung. Der Name ist seit bald dreissig Jahren Programm: Das Team leistet aufsuchende Sozialarbeit, ist auf der Gasse unterwegs. Nicht uniformiert, nicht gekennzeichnet – man kennt sich, man lernt sich kennen. Auf ihren Touren durch die Stadt verweilen die Gassenarbeiter*innen auch mal für einen Moment auf den Treppenstufen der Heiliggeistkirche. Dort fast immer anzutreffen sind obdachlose, Drogen konsumierende und von Armut betroffene Menschen. Wegweisungen und Repression drängten viele Menschen an die Ränder der Gesellschaft, sagt Eva Gammenthaler. «Die kirchliche Trägerschaft ermöglicht uns Arbeitsgrundsätze, die uns stark unterscheiden von anderen Institutionen: Wir arbeiten auf der Basis freiwilliger Beziehungen, wir versuchen, niederschwelligen Zugang zu gewährleisten, wir arbeiten anwaltschaftlich.» Dadurch kann die Gassenarbeit Frauen und Männer, zunehmend auch Jugendliche und junge Erwachsene, erreichen, die sonst durch alle Maschen fallen.

Was zeichnet die Kirchliche Gassenarbeit aus? Teammitglied Nora Hunziker spricht Klartext: «Es ist die Tatsache, dass wir unser Mandat nicht vom Staat haben. Wir müssen keiner Behörde Rechenschaft abliefern und mit tollen Zahlen belegen, wie wir in Einzelfällen gut gearbeitet haben. Wir werden nicht dauernd kontrolliert und beurteilt.» Gerade das ermögliche die Begegnung und die Arbeit mit einzelnen Menschen – ohne Zeitdruck. Und die Gassenarbeiter*innen ergreifen Partei: «Wir können Soziale Arbeit leisten, wie sie wirklich wäre: nämlich eine Menschenrechtsprofession.»

Frauenleben auf der Gasse

Gegen Abend kehrt im Büro der Gassenarbeit langsam Ruhe ein. Fünf Frauen aus der Schreibwerkstatt sind geblieben, um den Neuen Wegen aus ihrem Leben zu erzählen. Sie sitzen am Tisch in der Mitte des hell erleuchteten Raumes, essen Snickers und plaudern.

Alexandra ist die Jüngste unter ihnen. Sie wurde im Sommer volljährig. Elly hat die Fünfzig gerade überschritten. Sie ist die Älteste. Alle fünf leben oder lebten auf der Gasse. Vier haben einen Hund. Bei allen ist Sucht ein Thema. Auf der Gasse zu leben ist hart. Als Frau auf der Gasse zu leben noch härter.

Elly ist klein, hat kurze, blondgefärbte Haare mit blauen Strähnchen und rot lackierte Fingernägel. Sie hat eine laute, tiefe Stimme und ein Lachen, das die Gläser zum Klirren bringt. Elly ist gelernte Porzellanmalerin. Sie war siebzehn, als sie aus einem reichen Elternhaus auf die Strasse flüchtete. «Ich bekam alles in den Arsch geschoben und wollte endlich unabhängig sein.» Sie erzählt von wilden Hausbesetzungen, 24-Stunden-Raves und Molotowcocktails. Die beste Zeit ihres Lebens sei das gewesen. Elly begann, Drogen zu konsumieren, dreizehn Jahre war sie abhängig. Sie musste vor einem gewalttätigen Freund flüchten und landete auf der Gasse. «Da musste ich dann in kleinen Schritten lernen, zu kämpfen. Das war nicht einfach. Aber zurück wollte ich auch nicht.»

Auch Alexandra ist vom Elternhaus auf die Strasse geflüchtet. Nach drei Aufenthalten in der Psychiatrie musste sie einsehen, dass sie zuhause nicht mehr bleiben konnte. Mit fünfzehn ist sie abgehauen, seither schlägt sie sich irgendwie durch. Mal übernachtet sie draussen unter der Brücke, mal auf irgendeinem Sofa, auf dem Wagenplatz oder im Bremgartenwald. Jetzt hat sie im Internet einen Bauwagen ersteigert, den sie zu ihrem Zuhause ausbauen will. Ihre Stimme ist leise, aber bestimmt. Sie trägt Rastas, in die kleine Perlen eingeflochten sind, und eine Brille mit schwarzem Gestell. Ihre Beine stecken in pinken Leopardenleggins. «Ich wollte auch nicht wieder heim, auf keinen Fall. Ich wollte das Leben wertschätzen lernen. Wenn du obdachlos bist, musst du dir plötzlich überlegen, wie du deine Grundbedürfnisse decken kannst.»

Evelina war verheiratet. Mit der Trennung änderte sich alles schlagartig. Sie spricht von bösen Machenschaften und verfälschten Dokumenten und davon, dass sie keine Wohnung bekommen habe. So lebte sie zuerst mit ihrer Mutter im Auto auf dem Friedhof, danach flohen die beiden nach Italien, wo sie sich mit Betteln über Wasser hielten. Als Evelina ihre Mutter aus den Augen verlor, kehrte sie in die Schweiz zurück. Sie übernachtete auf Parkbänken und am Boden. Jetzt lebt sie in einer WG im Sleeper, der Notschlafstelle, zusammen mit ihrem Hund Waldi. Ihre hüftlangen Haare sind ergraut, ihr Blick flackert vor Wut und Enttäuschung. «Sie haben mich immer wieder in die Psychi gesteckt. Das ist eine Entsorgungsmaschine, nichts anderes. Und dann siehst du, wie immer wieder einer abtransportiert wird, unter dem weissen Tuch. Wer aufgibt, hat verloren.»

Marianne (Name von der Redaktion geändert) wurde mit siebzehn Mutter. Sie ging arbeiten, damit der Vater ihrer Tochter eine Ausbildung machen konnte. Dann traf sie jemanden, der ihr Drogen anbot. Sie wurde abhängig. Im Sommer übernachtete sie draussen, im Winter in billigen Hotels oder Jugendherbergen. Inzwischen konsumiert sie seit zwanzig Jahren nicht mehr, nur noch das «Methi». «Aber mein Körper ist kaputt. Ich bin so mager, die Leute halten mich für eine Magersüchtige.» Ihre Haut ist sonnengebräunt, ihr Haar rotgefärbt, und in ihrer Nase steckt ein silbernes Ringli. Sie bezeichnet sich selber als Hippie.

Biggi spricht nicht viel. Unter ihrer schwarzen Mütze schaut eine kleine orangene Locke hervor. Ihre Kleider sind schwarz. Ihr Körper ist gezeichnet vom Leben auf der Gasse. Ihre Eltern seien okay gewesen, sagt sie. Die Drogen hätten aus ihr eine Obdachlose gemacht. «Jetzt lebe ich in einem Bauwagen.»

«Man kommt sich vor wie ein Sack Ghüder»

Fünf Frauen, fünf Geschichten, viele Parallelen. Wohnungslose Frauen sind weniger sichtbar als wohnungslose Männer: «Viele Frauen ohne eigenes Zuhause übernachten zuerst bei Freunden», erzählt Alexandra. «Dann kannst du immer noch Couchsurfing machen. Und als Frau bekommst du sowieso immer irgendwelche Angebote von Typen, die dich mit nach Hause nehmen wollen.» – «Das stimmt. Da wirst du dann auch ganz schnell als Prostituierte abgestempelt. Und es machen’s ja auch viele. Aber auf dieses Niveau hätte ich mich nie heruntergelassen. Da hätte ich lieber keine Drogen genommen», schnaubt Elly verächtlich. «Das sagst du jetzt! Aber als Frau auf der Gasse bist du den Männern unterlegen. Nicht jede kann sich so wehren wie du», entgegnet Marianne wütend.

Sucht, Obdachlosigkeit und Gewalt sind eng miteinander verbunden. Auch verbale Gewalt. «Die Reaktionen der Menschen sind schlimm. Wir werden angespuckt, beschimpft, beleidigt und rumgeschubst», erzählt Evelina, und Tränen treten ihr in die Augen. «Man kommt sich vor wie ein Sack Ghüder, wenn man am Boden sitzt. Wie die Leute dich ansehen! Man grüsst sie, aber kriegt keinen Gruss zurück», sagt Elly. «Mir haben sie mal die Schuhe gestohlen, als ich auf einem Bänkli schlief, einfach ausgezogen», erinnert sich Marianne. Und Biggi erzählt: «Eine Gruppe Jugendlicher hat mir mal ganz laut zugerufen: ‚Du Obdachlose du, willst du nicht mal eine Wohnung zahlen?»– «Ja, oder sie sagen dir, du seist zu faul, um zu arbeiten. Sie vertschaupen dich noch mehr und noch mehr. Die, die zuunterst sind, kommen drunter – immer.» Evelinas Stimme wird lauter, ihre Augen sind voller Wut: «Und dann schicken sie dich zu irgendeiner Hilfsarbeit, zahlen einen Franken pro Stunde und erwarten, dass du dich überschwänglich bedankst. Das ist Ausbeutung, verschteisch!»

Auch auf der Gasse könne man niemandem trauen, sagen die Frauen. Jede kämpfe für sich allein. Mit leiser Stimme erzählt Alexandra: «Ich schlief unter einer Brücke an der Aare. Am Tag habe ich Zelt und Schlafsack extra gut versteckt. Aber jemand hat mein Versteck gefunden und alles mitgenommen.» – «Je weniger Geld die Leute haben, desto egoistischer wird’s. Du kannst niemandem vertrauen», versucht Elly die Situation zu erklären. «Deshalb bin ich lieber für mich. Aber immerhin kann man mit den Leuten auf der Gasse besser schnurre als mit den Bünzlis», fügt sie hinzu und lacht laut. «Also ich habe auf der Gasse viele Freundschaften geschlossen», entgegnet Alexandra. «Weil es Menschen sind, die dich verstehen und die das gleiche durchmachen wie du. Aber man muss vorsichtig sein», ihr Blick wird leer. «Heute ist der Todestag meines Gassenschwesterlis. Sie starb vor zwei Jahren. Menschen kommen und gehen. So ist das Leben auf der Gasse.»

Elly blickt liebevoll zu den Hunden, die still unter dem Tisch liegen: «Tiere sind die besten Therapeuten! Und Freunde fürs Leben. Gerade wenn man auf der Gasse lebt. Wirklich, das ist so eine Stütze, das glaubst du nicht.» Evelina pflichtet ihr bei: «Ich habe auch gekifft, früher. Aber als ich mich für einen Hund entschieden habe, habe ich aufgehört. Ich gebe das Geld lieber für ein Würstli für Waldi aus. Der nimmt mich so wie ich bin – gäu du Schätzi.»

Sich die Unterstützung nicht verdienen müssen

«Weil ich keine Adresse habe, kann ich mich nicht beim Sozialdienst anmelden. Das heisst, ich kann auch keine Sozialhilfe beziehen und keine Wohnung suchen. Das ist ein Teufelskreis!», sagt Alexandra. Die Frauen sind sich einig, dass dieses Problem einfach zu lösen wäre. Bloss der Wille von oben fehle. «Dann kommt hinzu, dass du nicht so gepflegt aussiehst, wenn du auf der Strasse lebst. Ich trinke nicht, ich konsumiere keine Drogen, aber die Leute sehen in mir sofort eine Alkoholikerin. Und dann wirst du automatisch abgelehnt. Null Toleranz, verstehst du, was ich meine», Evelina redet sich erneut in Rage. «Ja, aber du musst mal unter den Gassenleuten schauen: Wenn jemand geschnigelt und geschminkt daherkommt, wird sie auch nicht gegrüsst. Dann kennen sie dich plötzlich nicht mehr. Die sind doch wie die Bünzlis!», hält Marianne dagegen und erntet allgemeines Gelächter.

«In diesem System werden Menschen ausgegrenzt, nur weil sie arm sind oder weil sie konsumieren. Das darf doch nicht sein!», sagt Nora Hunziker, und Wut schwingt in ihrer Stimme mit. Wut verspüren die Gassenarbeiter*innen oft in ihrem Arbeitsalltag. Wenn sie miterleben, wie respektlos und abschätzig «ihre Leute» behandelt werden. Wenn sie einsehen müssen, dass sie jemandem nicht helfen können. Wenn sie realisieren, dass es in diesem System immer Menschen geben wird, die durch die Maschen fallen. Wut treibt sie in schwierigen Situationen an, weiterzumachen.

«In diesem System werden Menschen ausgegrenzt, nur weil sie arm sind oder weil sie konsumieren. Das darf doch nicht sein!», sagt Nora Hunziker, und Wut schwingt in ihrer Stimme mit. Wut verspüren die Gassenarbeiter*innen oft in ihrem Arbeitsalltag. Wenn sie miterleben, wie respektlos und abschätzig «ihre Leute» behandelt werden. Wenn sie einsehen müssen, dass sie jemandem nicht helfen können. Wenn sie realisieren, dass es in diesem System immer Menschen geben wird, die durch die Maschen fallen. Wut treibt sie in schwierigen Situationen an, weiterzumachen.

Dass diese Arbeit für Eva Gammenthaler und Nora Hunziker mehr als ein Beruf ist, wird schnell spürbar. Sie haben einen klaren Anspruch an die Sozialarbeit und scheuen keine Kritik. «Es ist oft die Rede davon, Leute zu verwalten oder zu erziehen. Ich habe mich immer gefragt, zu was ich die Leute denn erziehen soll.» Viele soziale Institutionen wollten die Leute für diese Gesellschaft wieder leistungsfähig und funktionstüchtig machen. «Aber ich fühle mich ja auch nicht immer wohl in dieser Gesellschaft …», sagt Nora Hunziker­ nachdenklich. Für eine Hilfestellung werde sofort etwas zurückverlangt. «Es ist immer ein Handel. Du kannst kommen und erhältst Geld, aber du musst beweisen, dass du das Geld verdienst.» Mit dieser tief neoliberalen Denkweise könne sie sich nicht identifizieren. «Bei der Kirchlichen Gassenarbeit können wir fördern, ohne zu fordern. Das ist ein grosses Privileg.»

Ihr wichtigstes Arbeitsinstrument sind sie selber: Die Gassenarbeiter*innen bauen Beziehungen zu den Menschen auf und arbeiten tagtäglich daran – Ziel ist immer, auf Augenhöhe zu bleiben. «Das erfordert viel Reflexion des eigenen Handelns und der eigenen Gedanken», sagt Eva Gammenthaler. Nora Hunziker fügt an: «An den meisten Orten gibt es die Möglichkeit, sich hinter institutionellen Regeln oder organisationalen Gegebenheiten zu verstecken. Das geht hier nicht. Konflikte werden ausgetragen. Das ist Teil der Beziehungsarbeit.» – «Die Leute merken, dass sie nicht nur eine Nummer sind, sondern dass wir sie als Menschen wahrnehmen,» ergänzt Eva Gammenthaler. Die Mitarbeiter*innen des Kirchlichen Gassenarbeit teilen mit den Menschen, die sie aufsuchen, Emotionen, Erinnerungen, Erlebnisse. Ohnmacht und Hilflosigkeit gehören dazu. «Aber wir sind auch da, wenn sich jemand verliebt. Oder wenn jemand nach Jahren endlich wieder eine Nacht in einem Zimmer geschlafen oder sogar eine Wohnung gefunden hat. Solche Momente machen Freude!», sagt Eva Gammenthaler.

Kirche für andere – durch andere

Wie so viele gesellschaftspolitische Projekte und Institutionen ist die Kirchliche Gassenarbeit Bern ein Kind der 1980er Jahre. Mitten in den Jugendunruhen 1981 bildeten reformierte Pfarrer*innen, sozialdiakonisch und sozialpolitisch Aktive eine Arbeitsgruppe zur Jugendpolitik. Im sogenannten Jugendbericht postulierten sie den Aufbau einer kirchlichen Gassenarbeit. 1984 wurden die ersten Gassenarbeiter*innen angestellt, finanziert von den Kirchgemeinden der Stadt und Region Bern. Mit dem ökumenischen Verein Kirchliche Gassenarbeit Bern (KGB) entstand eine eigenständige Trägerschaft. Das war 1988, die Zeit der offenen Drogenszenen. Die Gassenarbeit spielte bei manchen Experimenten und Projekten eine wichtige Rolle, etwa bei der Schaffung der Schnellentzugseinrichtung Freier Fall oder später bei einem Bus als gassennahe Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen auf dem Strassenstrich. Weil viele Menschen, die sich in diesen Szenen bewegten, aus der weiteren Region kamen, wurde versucht, die Basis der Gassenarbeit auszuweiten. Bis heute tragen neben den reformierten und katholischen Gesamtkirchgemeinden der Stadt Bern über fünfzig Kirchgemeinden der weiteren Region den Verein. An die grosse Glocke hängt diese Kooperation niemand. Eva Gammenthaler wird konkret: «Durch die Freiheit, die uns die kirchliche Trägerschaft ermöglicht, können wir auch sozialpolitisch aktiv sein. Wir können uns äussern. Etwa, wenn wir jetzt eine Notschlafstelle für Frauen fordern, auch über das Stadtparlament, und dabei die Haltung der Stadtregierung kritisieren. Wir müssen nicht die Hand beissen, die uns füttert.»

Die Frauen, die an der Zeitschrift Mascara mitschreiben, schätzen das Angebot der Kirchlichen Gassenarbeit sehr, auch wenn sie sonst mit der Kirche nicht viel am Hut haben. «Ich dachte zuerst, man darf nur kommen, wenn man bei einer Kirchgemeinde angemeldet ist. Aber hier sind alle willkommen. Ich hätte vieles nicht geschafft ohne diese Unterstützung – auch heute noch. Als ich im Gefängnis war, haben sie mich sogar besucht und mir Schokolade vorbeigebracht», sagt Alexandra und lächelt. «Auch wenn es nur ein aufgelöstes Neocitran ist und ein Gespräch. Das kann einem so viel geben, wenn man auf der Strasse lebt», pflichtet Elly ihr bei. Und Eveline fügt an: «Für mich ist das Angebot lebenswichtig! Sie geben die Leute nicht einfach auf, indem sie sie aussortieren. Das sind Engel ohne Flügel.»

Nach dem Besuch setzt das journalistische Nachdenken ein. Die Kirchliche Gassenarbeit Bern entspricht dem bekannten Postulat von Dietrich Bonhoeffer – der Theologe leistete Widerstand gegen das Naziregime und wurde vor 75 Jahren ermordet: «Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.» Mit diesem Projekt geht die Kirche noch einen Schritt weiter: Sie handelt nicht selbst für andere, sie sucht keine Sichtbarkeit. Sie ist durch andere für andere da. Bonhoeffer schreibt nach seinem Satz über die Kirche weiter: «Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.» Die Kirche gewährleistet die Autonomie der säkularen Institution Gassenarbeit und garantiert ihre Ressourcen. Man suche nicht nach einer theologischen Erhöhung, das eigene diakonische Bekenntnis sei ein vollständiges Bekenntnis, mehr brauche es nicht, wie sich der Verein vor einigen Jahren ausdrückte.

Wenn Kooperationen über die Kirche hinaus gelingen …

Zu beobachten ist allerdings eine Lücke. Zwischen der Kirchlichen Gassenarbeit und kirchlich-institutionellen Strukturen gibt es nur dünne Verbindungen. Im Vorstand der Gassenarbeit sind die Kirchgemeinden zwar vertreten. Konfirmationsklassen kommen zu Besuch. Für einzelne Menschen leisten Kirchgemeinden auf Anfrage der Gassenarbeit unbürokratische Unterstützung. Doch was passiert, wenn dereinst Sparübungen oder politischer Gegenwind historisch gewachsene Selbstverständlichkeiten gefährden sollten? Ist der heute bestehende Freiraum der Gassenarbeit wirklich noch bewusst gewollt, oder schauen die Kirchen gar nicht so genau hin, weil alles läuft?

Das Team der Kirchlichen Gassenarbeit schätzt ihre Trägerschaft als sehr kostbar ein. Aber es rechnet kaum mit kirchlichen Funktionsträger*innen, mit widerständigen Christ*innen, wenn es um gesellschaftspolitische Forderungen geht. Die Forderung nach einer Notschlafstelle für Frauen, nach einem Projekt für obdachlose Jugendliche wird nicht mit der Tatsache zusammengedacht, dass in nächster Zeit in der Stadt Bern kirchliche Liegenschaften aufgegeben werden.

Aus den Kirchen heraus geschieht im Bereich Obdachlosigkeit, Wohnen, Sucht beeindruckend viel. Kaum jemand ist sich dessen allerdings bewusst. Die Kirche versteht sich nicht als direkte politische Akteurin im Bereich Wohnen und Obdachlosigkeit. Karl Johannes Rechsteiner, Beauftragter für Kommunikation der Katholischen Kirche Region Bern und seit Jahren an vielen Projekten selber beteiligt, berichtet von einem Aha-Erlebnis auf dem sozialen Stadtrundgang der Zeitschrift Surprise in Bern. Auf sämtlichen Stationen traf er auf einen engen kirchlichen Bezug, auf kirchliche Projekte, Häuser, Geschichten. Auch bei der Gassenarbeit macht der Rundgang jeweils Station. Sichtbar wird das kirchliche Netz dabei wenig. Rechsteiner sagt: «Viele Projekte sind ökumenisch getragen, die Vernetzung ist ausserordentlich, insbesondere durch die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Bern AKiB. Das ist eigentlich grossartig.» Die Geschichte, die hinter diesen Projekten steht, bleibt aber unerzählt. Projekte wie die Kirchliche Gassenarbeit oder das offene Haus La Prairie in Räumen der katholischen Kirche entstehen nicht an Sitzungstischen kirchlicher Gremien, sondern sind zuerst oft erkämpft von kleinen Gruppen «kirchlicher Widerstandskultur», wie Rechsteiner sagt.

Im kirchlichen Betrieb gibt es kaum öffentliche Orte der selbstkritischen Reflexion der sozialdiakonischen Arbeit: Oft erlauben erst unkonventionelle Kooperationen über die eigenen Kreise hinaus, dem System von Ausgrenzungen an die Wurzel zu gehen. Die in der Kirche wie auch in widerständigen Basisprojekten engagierten Menschen stehen ständig unter Zeit-, Finanz- und Konkurrenzdruck, sie kommen kaum dazu, über den eigenen Tellerrand hinauszudenken. Hilfreich wäre ein verändertes Selbstverständnis kritischer Kirchenleute: Die Begleitung gesellschaftspolitischer Bewegungen, sozialer und soziokultureller Projekte ist eine zentrale Aufgabe einer befreiungstheologisch inspirierten Arbeit. Und zwar gleichermassen von Vorhaben mit kirchlicher (Mit-)Trägerschaft und religiösen Bezügen als auch solcher in grosser säkularer Distanz. Kritische Pfarrer*innen und Theolog*innen können so organisatorische und konzeptionelle Beiträge in gesellschaftlichen Prozessen leisten, die auf grundsätzliche Veränderungen abzielen. Eine an der Realität auf der Gasse geprüfte Theologie könnte in die Kirchen zurückstrahlen, sie könnte kirchliches Leben in den Gemeinden, in Gottesdiensten prägen, Liegenschaftsstrategien oder die Kommunikation gegenüber den Stadtbehörden verändern. Rechsteiner spricht aus Erfahrung: «Wenn Kooperationen zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Kreisen gelingen, können wir eine enorme Kraft entwickeln.»

Damit solches auf der politischen Bühne wie im Projektalltag gelingt, braucht es glaubwürdige Personen, die Übersetzungsarbeit leisten zwischen den Milieus kritischer Politik und Bereichen der Kirche. Sie müssen zusammenspannen, Vertrauen aufbauen, Projekte durchziehen. Es braucht Menschen, die sich nicht durch die grossen Vorurteile gegenüber Kirche und Religion – wie verwurzelt sie in historischen oder biografischen Erfahrungen auch sein mögen – gefangen nehmen lassen und dadurch die Chancen von handlungsmächtigen Bündnissen verspielen. «Auch wenn unsere Zeit knapp ist, müssen wir mehr investieren, dass wir voneinander wissen», sagt die Co-Präsidentin der Kirchlichen Gassenarbeit, Christa Ammann, die für die Alternative Linke im Grossrat sitzt.

Zurück im Raum der Kirchlichen Gassenarbeit. Die Hunde werden langsam ungeduldig, sie wollen raus. Das Gespräch hat lange gedauert. Auch die Frauen wollen nach draussen
– rauchen. «Weisst du, ich möchte kein anderes Leben,» sagt Elly, bevor sie geht. «Ich möchte nicht jeden Tag ins Büro und einen Mann und zwei Kinder haben, das stelle ich mir extrem langweilig vor!» Sie lacht. Alexandra denkt lange nach, dann sagt sie: «Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich einiges wieder gleich machen. Ich habe sehr viel gelernt in der Zeit auf der Gasse, über mich, über die Gesellschaft und das Leben. Ich habe auch vieles durchgemacht. Aber ich finde, gerade für Jugendliche, die auf der Gasse leben, müsste es ein viel besseres Angebot geben, sie brauchen Schutz, in einer speziellen Notschlafstelle zum Beispiel.» Und Biggi sagt: «Ich würde mir wünschen, dass die Leute hinschauen und uns nicht einfach ignorieren. Das würde schon viel bringen.»

  • Zoé Kammermann,

    *1999, machte nach der Matura ein Praktikum bei Radio RaBe als News-Journalistin. Sie liest viel, schreibt gerne und mag aufrichtige Begegnungen und gute Geschichten. Sie lebt in Thun.

    gassenarbeit-bern.ch

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.