Vergangenen Monat stolperte ich über eine entwurzelte Aloe Vera am Strassenrand – kein Topf, keine Erde – ein tragisches Bild. Ich hob die ausgestossene Pflanze auf und flüsterte in die spitzen Tragblätter, dass alles gut wird. Ich nahm sie mit nach Hause. Die gebrochenen Zehen stehen jetzt in einem frischen Glas Wasser.
«Na, wo kommst du denn her?», frage ich sie auf die gleiche nervige Weise, wie auch nach meinen Wurzeln seit über 34 Jahren in Almanya gefragt wird. «Von hier», raschelt die Pflanze nervös. «Nein!», antworte ich. «Ursprünglich! Wo kommst du denn ursprünglich her?» Die Aloe Vera ergibt sich dem Verhör: «Meine Urururgrosseltern stammen von der arabischen Halbinsel.» «Aha!», triumphiere ich, «das habe ich gleich gesehen, siehst ja nicht aus wie ein Apfelbaum!», und klopfe ihr auf die grünen Schultern. Wir lachen und fallen uns in die Blätter, wir sitzen im gleichen Topf. Sie sieht es mir nach, schaut zurück auf mein freches Gesicht und schweigt, so wie es Pflanzen immer tun, wenn Autor*innen ihnen keine imaginäre Sprechblase aufmalen. Auch Stille kann eine Antwort sein.
Still flüstert mir auch ein Ast vom Feigenbaum zu. In einem Päckchen war er angekommen, meine Mutter hatte ihn aus dem südhessischen Nirgendwo per Eilversand nach Berlin verschickt. Den Baum hatte Baba aus Adana in der Türkei nach Almanya geschmuggelt, ein kleines Pflänzchen mit Migrationshintergrund. Dieser herbe, sonnige Geruch der Feigenblätter, ich erkenne ihn überall wieder. Den Ast schnürte ich an die Wand. Der Wind aus dem offenen Fenster weht den Duft durch das ganze Zimmer. Ich schliesse die Augen und sehe meine Grossmutter vor mir. Sie klettert aus dem Fenster und pflückt die süssen Früchte vom Feigenbaum zum Frühstück. Ich schliesse die Augen und sehe meinen Grossvater vor mir. Er flaniert auf der Terrasse, er zitiert Koranverse und betet in die Nacht. Sure 95, Vers 1: «Bei der Feige und der Olive!»
Ich habe es von Dede und Nene gehört. Allah schwört auf Tin und Zaitun, auf Feigen und Oliven, um dann zu sagen: «Wir liessen dem Menschen die schönste Gestalt zukommen.» Und trotzdem zweifelt er? Und der Mensch fällt, auch daran erinnert Allah, ausser jene, «die glauben und Gutes tun, für sie wird es einen Lohn geben, der nicht aufhört», heisst es im Vers 6. Allah schwört auf Feigen und Oliven, um Seine Worte klarzumachen.
Auch in der Bibel taucht der Feigenbaum auf, er steht im Garten Eden. Nachdem Adam und Eva von den Früchten eines verbotenen Baumes naschen, werden sie sich ihrer Nacktheit bewusst. Aus Scham reissen sie Blätter vom Feigenbaum und bedecken ihre Genitalien.
Es ist ein alter Topos, die Brücke zwischen Früchten und der Sexualität. Feigen werden betörende Eigenschaften nachgesagt, in der griechischen Antike werden sie Dionysos geweiht. «Feigenblätter bedeuten das Jucken der Sinnlichkeit», sagte Augustinus von Hippo. In der Tora steht die Feige für Wohlstand und Frieden. Und der Prophet Muhammad sagte: «Wenn man mich nach einer Frucht aus dem Paradies gefragt hätte, hätte ich bestimmt die Feige genannt.»
Frische Feigen habe ich vom Markt gekauft. Ich spüle sie ab, tupfe sie trocken, schneide sie ein, kreuzweise, zerbrösle Schafskäse, tröpfele Honig darauf, dann Salz und Pfeffer, ein wenig Rosmarin. So verschlinge ich Gottes Schwur zum Abend, zerkaue schwarze Oliven, platziere sie tief im Magen. «Olive ist ein immergrüner Baum / Olive bleibt immergrün / Wie ein Schutzschild für das Universum», schrieb Mahmoud Darwish 1964 in seinem Band Leaves of the Olive Tree. Seine Gedichte wimmeln nur so von Anspielungen auf den robusten Baum und seine schmackhaften Früchte; sie sind Symbol für landwirtschaftliche Kraft, für finanzielle Sicherheit, für die tiefe Verwurzelung in Palästina. Für Beständigkeit, und auch im Exil für Sehnsucht nach Rückkehr und Frieden. Was für zahlreiche Palästinenser*innen die Olive ist, ist für viele Kurd*innen der Granatapfel.
Ich greife zum Smartphone, öffne den Pomegranate Podcast, Folge Newroz Pîroz Be, und drücke auf Play. «Do you actually like pomegranate and if you do, how do you like them?», fragt die Podcast-Co-Moderatorin @elifxeya ihre Gästin Rosa Burç. «Of course, I do», antwortet diese. Burç mag die Frucht mit Salz, sie mag die harte Schale, unter der sich eine ganze Welt verberge. Kleine, rote Diamanten nennt sie die Kerne, sie erkennt darin Integrität und Autonomie. Ein wunderschönes Bild für eine Frucht, die für Newroz (deutsch «der neue Tag») steht. Das Fest markiert die Ankunft des Frühlings, den Beginn des neuen Jahres und damit auch Hoffnung. Newroz stehe für viele Kurd*innen deshalb auch für Stärke, Resilienz und Widerstand gegen staatliche Gewalt und Unterdrückung, erklärt die Politikwissenschaftlerin.
Kein Wunder, dass sich der Herausgeber aDj jüngst für den Granatapfel als Illustration für den in der Edition Assemblage erschienenen Band Tofan (Sturm). Literarische Interventionen aus revolutionären Bewegungen entschieden hat. Die Beiträge über afghanische, iranische und kurdische Kämpfe versammeln sich unter dem Zeichen des Granatapfels, den der Herausgeber mit widerständigen Symbolen besetzen wollte: «Mir bedeutet der Granatapfel persönlich etwas, meine Familie und ich nennen es gerne (lange unfreiwillig) Apfelgranate.» Ich unterstreiche den Satz, klappe die Buchseiten zusammen.
Beim Essen geht es nicht nur darum, existenzielle Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist eine soziale und sinnliche Praxis, es ist intim und politisch, es schafft Raum für marginalisierte Erfahrungen, für revolutionäre Stimmen, für Geschichten, die Anerkennung und Freiheit suchen.
Wieder denke ich an meine Grossmutter, ihr Vater emigrierte aus Beirut, seiner Geburtsstadt, nach Adana, wo heute sein Grab steht. Seit ich denken kann, weht der Wind vom Beiruter Strand in unser Viertel in die Türkei. Die Stimme der Sängerin Fairuz hallt durch meine Kindheitserinnerungen, im Wohnzimmer, auf den Terrassen, in den staubigen Höfen der Nachbarschaft. Libeirut singt sie 1984, «an Beirut», auf dem Höhepunkt des libanesischen Bürgerkrieges. Fairuz beklagt die Wunden der Stadt, versinkt in nostalgische Wehmut: «Sie [Beirut] ist Wein aus der Seele des Volkes / Brot und Jasmin aus dem Schweiss des Volkes / Wie wurde ihr Geschmack nur zu Feuer und Rauch?»
Zedernrinde, wilden Thymian, Feigen und Oliven haben meine Grosseltern in meine Nase gepflanzt, mit dem Saft der Früchte schreibe ich Gedichtverse, lasse die Erinnerungen weiter spriessen. Zubeissen hilft in Kummer und Not, das Fruchtfleisch zerkauen, zum eigenen Fleisch machen, um die Grenze zwischen Rinde und Haut zu überwinden, um das Leben auf dieser Welt zu bestehen.
Ein türkisches Sprichwort sagt: «Ocağıma incir ağacı diktin», du hast einen Feigenbaum in meinem Zuhause gepflanzt. Das ist eine Anklage. Du hast Unruhe gestiftet! Schliesslich werden die Wurzeln des Feigenbaums entfernt von Häusern gepflanzt, weil sie sonst das Fundament zerstören, um ans Wasser zu gelangen. Wer einen Feigenbaum im Heim pflanzt, zerstört das Haus. Anders als gemeint, gefällt mir die Metapher, der Feigenbaum ist auch gefährlich. Er sucht sich seinen Weg, er kann versüssen und verbittern. Er setzt sich zur Wehr, wie der Mensch. Wie schön wäre es, Feigenbäume zu pflanzen, um Mauern zu sprengen, die uns von anderen trennen und uns unserer Freiheit berauben.
«Vergiss nicht, auch mich zu pflanzen!», ermahnt mich die Aloe Vera, sie weckt mich aus meinem Autorenmonolog. «Das werde ich», sage ich. «In Neugier, was du dann mit meinem Zimmer und mit mir machst.» ◴