Mit dem Aufstieg des Internets vor mehr als zwanzig Jahren schien sich ein neuer Raum der Autonomie, das so lange ersehnte «Reich der Freiheit» (Karl Marx) abzuzeichnen. Viele seiner Prophet*innen glaubten, dank des ungehinderten Zugangs zu Informationen könne nun alles, was der menschliche Geist erdenke, in unbegrenzten Mengen und beinahe kostenfrei hergestellt und verteilt werden. Der US-amerikanische Künstler und Bürgerrechtler John Perry Barlow erklärte in seiner 1996 veröffentlichten Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace an die Adresse der Unternehmer: «Die globale Ideenproduktion braucht eure Fabriken nicht mehr.» Die Vorzeichen einer neuen Zeit schienen bereits am Horizont erkennbar zu sein.
Der britische Publizist und vom Marxismus beeinflusste Theoretiker Paul Mason benennt in seinem 2015 erschienenen, im Jahr darauf auch auf Deutsch übersetzten Buch Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie eine Spannung zwischen der potenziell möglichen Befreiung und dem System: «Der wesentliche innere Widerspruch des modernen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit kostenloser, im Überfluss vorhandener Allmendeprodukte und einem System von Monopolen, Banken und Regierungen, die versuchen, ihre Kontrolle über die Macht und die Informationen aufrechtzuerhalten. Es tobt ein Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie.»
Sollten wir den Schluss daraus ziehen, dass es genügt, auf die Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus zu setzen und im Übrigen dem Weltgeist zu vertrauen, der es schon in unserem Sinne richten wird? Selbstverständlich ist Mason nicht so naiv, doch er glaubt nachweisen zu können, dass der «Informationskapitalismus» letztlich die Funktionsweise des Kapitalismus ganz generell untergrabe und dadurch neue Perspektiven gesellschaftlicher Emanzipation eröffnet würden. Der angesichts solcher Prognosen möglicherweise aufkommenden Euphorie versetzt der deutsche Soziologe Philipp Staab in seinem 2019 erschienenen Buch Digitaler Kapitalismus allerdings einen spürbaren Dämpfer. Staab, der als Professor für die Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig ist, verweist auf empirische Befunde: Die Digitalökonomie erweist sich als ein für das Kapital hoch attraktives Investitionsfeld, obwohl doch gemäss einer kritischen Theorie gerade dort das Ende ökonomischer Profite angelegt sein soll.
Folgt der Leser, die Leserin den Analysen und Argumenten des Soziologen, dann steht nicht der Postkapitalismus vor der Tür, sondern eine kapitalistische Reorganisation, die sich aus den «rauchenden Ruinen des Neoliberalismus» (Staab) erhebt. Gut, das Alte ist noch nicht ganz tot, doch die Ideologie des «freien Marktes», dessen ungehinderte Entfaltung letztlich allen nutzen werde, hat schon längst ihren Glanz und vor allem ihre Überzeugungskraft verloren. Doch was ist dann tatsächlich das Neue, das unter unseren Augen Gestalt annimmt, aber erst noch verstanden werden will? Unsere Gegenwart auf den Begriff zu bringen, bedeutet nicht zuletzt: sie als eine veränderbare und nicht als eine sich schicksalshaft ergebende Zeit zu erkennen. Doch dazu später.
Staabs Buch setzt eine gewisse Vertrautheit mit der jüngeren Geschichte des Kapitalismus voraus. Hier in aller Kürze (und unvermeidlicher Verkürzung) ein paar Stichworte: Die Nachkriegszeit war in Westeuropa vor allem durch einen von der Systemkonkurrenz zwischen den Supermächten bedingten Konsens zwischen Kapital und Arbeit geprägt. Dieser basierte auf Massenproduktion und -konsum sowie auf einem Staat, der zugunsten eines Ausgleichs zwischen den Klassen wirtschaftlich stark intervenierte. Dieses Modell, auch Fordismus genannt, erwies sich spätestens Anfang der 1970er Jahre als brüchig – vor allem deshalb, weil es nicht mehr genügend Profit versprach. Die neoliberale Wende setzte sich als Rückkehr zum Markt als dem entscheidenden ökonomischen Mechanismus durch.
Dadurch konnten die Profite ein Stück weit stabilisiert werden, doch diese Sicherung ging zu grossen Teilen zu Lasten der abhängig Beschäftigten. Die Stagnation der Reallöhne machte es notwendig, die Nachfrage durch immer neue Schulden zu stützen. Doch auch das neoliberale Regime hat es nicht geschafft, das «zentrale ökonomische Problem des nachfordistischen Kapitalismus» zu lösen: seine nunmehr seit fast einem halben Jahrhundert andauernde Wachstumskrise. Deshalb schickt sich das System an, eine neue Form der Kapitalakkumulation zu entwickeln: das Modell der «proprietären Märkte», so Staab. Was ist damit gemeint? Klassische Unternehmen agieren auf Märkten, «die Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus hingegen sind Märkte». Der Unterschied zwischen offenen Märkten und solchen, die von Unternehmen bestimmt werden, wird im folgenden noch deutlich.
Was zeichnet diese jüngste Gestalt des Kapitalismus aus? Seine Pioniere bedienen sich der vielfältigen Möglichkeiten der modernsten Netzwerk-Technologie, um Monopole aufzubauen. Deren Funktion besteht darin, im Grunde genommen unknappe Güter (Information) künstlich zu verknappen und das Angebot auf den von ihnen geschaffenen Plattformen entsprechend zu kontrollieren. Mit ihrer Fähigkeit, «aus eigentlich unknappen Gütern Profit zu schöpfen, tut sich ein Feld für die Generierung leistungsloser Einkommen, also ökonomischer Renten auf», stellt Philipp Staab fest. Hier zeichne sich weniger ein Post-, als vielmehr ein Hyperkapitalismus ab. Den parallelen Aufstieg von Finanz- und digitalem Kapitalismus hält er keineswegs für einen Zufall: Finanzialisierung und Digitalisierung seien «aus demselben Holz geschnitzt». So wird das Finanzsystem entscheidend durch elektronische und digitale Technologien bestimmt. Zudem sind auch Kredite ein unknappes Gut, denn das Buchgeld der Banken wird wie «aus dem Nichts» erschaffen. Die Belastung der Schuldner*innen ist allerdings eine ganz reale.
Die Bildung solcher Monopole gelingt nur unter der Voraussetzung, dass Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus wie Google, Facebook oder Amazon in der Lage sind, eine umfassende Kontrolle über die von ihnen geschaffenen Märkte zu gewährleisten. Das gelingt ihnen zum Beispiel dadurch, dass sie Konsument*innen erst einmal durch kostenlose Angebote an sich binden, um ihnen dann vermeintlich kostengünstige Güter verkaufen zu können. Um ihre Macht zu etablieren, müssen diese Leitunternehmen das Wissen über die Entwicklung von Angebot und Nachfrage in ihrer Hand behalten, den Zugang zum eigenen Marktplatz kontrollieren, die Konkurrenz zwischen den Anbietern im Dienste der eigenen Profite optimieren sowie den Produzent*
innen die Bedingungen der Leistungserbringung bis ins Detail diktieren. Proprietäre Märkte sind, so Staab, erst dann perfekt, wenn sie ein effektives Monopol besitzen. «Dies ist im kommerziellen Internet aber noch nicht vollständig der Fall.»
Ein Resümee des Buches lautet: «Nicht die von den Theoretikern des Postkapitalismus erwartete Dezentralisierung, sondern Macht und Kontrolle bilden den Kern des kommerziellen Internets.» Dieses sei nicht nach dem Vorbild der Allmende, «sondern entsprechend der Machtkonzentration in der Finanzindustrie strukturiert, die viel früher lernen musste, Profitakkumulation mit ökonomischer Unknappheit in Einklang zu bringen». Unter diesen Bedingungen stirbt der Kapitalismus nicht allmählich ab, sondern radikalisiert sich in seinen Grundzügen. Dies betrifft vor allem die Verschärfung der sozialen Ungleichheit.
Philipp Staab führt die damit zusammenhängenden Prozesse im Begriff der «Enteignung von Arbeit» zusammen. Dies bedeutet, dass proprietäre Märkte, die sich eine Monopolstellung verschaffen konnten, «den Transfer ökonomischen Wohlstands vom Faktor Arbeit zum Faktor Vermögen» ermöglichen. Durch den digitalen Kapitalismus sieht Staab den Faktor Arbeit als stark geschwächt an. Eine soziale Bewegung gegen den digitalen Kapitalismus hält er für «unwahrscheinlich», weil dieser aus einer Allianz aus Kapital und Konsument*innen bestehe. Bereits mit dem heraufziehenden Neoliberalismus wurden die Menschen in ihrer Rolle als Kund*innen allseits umworben, während ihre sozialen Rechte als Werktätige mehr und mehr beschnitten wurden. An die Stelle des Bürgers und der Bürgerin treten die «consumer citizens», so der Soziologe Wolfgang Streeck. Das Gegenübertreten der Rollen von Konsument*innen und Arbeitenden führe zu einer Blockade sozialer Konflikte, meint Staab: Jeder politische Funke müsse die Interessensgegensätze innerhalb der politischen Subjekte überwinden, «die im Kapitalismus als Verbraucher subventioniert werden, während man sie als Arbeitende systematisch enteignet».
Die These des blockierten sozialen Konflikts durch den sich in das Individuum verlagerten Gegensatz mag einiges für sich haben. Sie verbaut allerdings den Blick für die auch im heraufkommenden digitalen Kapitalismus sich zeigenden Widersprüche. Und damit sind nicht nur die unterschiedlichen kapitalistischen Wege in den USA, China und Europa gemeint. Die Kritik zum Beispiel am Gebaren von Facebook nimmt durchaus zu, und das Sammeln von Datenbergen in den Händen von privaten Unternehmen stösst vielfach auf Unverständnis. Aus solchem Unbehagen entsteht nicht automatisch eine soziale Bewegung, doch im Verbund mit anderen Bewegungen, etwa «Fridays for Future», die sich auch über den gewaltigen Energieverbrauch des kommerziellen Internets Gedanken machen könnten, ist da noch manches zu erwarten. «System Change» auch in Sachen digitaler Kapitalismus!
Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 345 Seiten.
*1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.