In einer Zeit grösserer Umbrüche (in diesem Fall persönlicher Art – bezüglich der Weltlage von «Umbruch», oder noch besser: von «Zeitenwende», zu reden, ist ja inzwischen schon zur floskelhaft unzureichenden Beschreibung der apokalyptischen Verhältnisse geworden) lässt sich auf meinem Fenstersims etwas Staunenswertes, ja Grossartiges beobachten: Ein Eichhörnchen baut ein Nest. Das kleine Tier trägt Äste, Stofffetzen, sogar ein Stück einer Plastiktüte hinter eine alte Metallkiste auf dem Sims und baut eifrig, emsig, beflissen an seiner Behausung. Ganz ungeachtet der besagten Weltlage, ganz ungeachtet der Tatsache, dass auf der anderen Seite der Fensterscheibe – mindestens ebenso eifrig – eher ab- als aufgebaut wird: Überflüssiges, über die Jahre Angesammeltes ausgemistet, der Staub der Jahrhunderte ausgeklopft, Innenräume rausgeputzt, Psychohygiene betrieben.
Die kleine «Nachbarin» auf dem Fenstersims lässt sich vom Baulärm im Inneren des Zimmers jedoch nicht beeindrucken, sondern macht selber kräftiges Geraschel und knallt schon mal den einen oder anderen Ast an die Fensterscheibe. Zierlich ist sie, hellrot und unglaublich schnell. «Kobel» heisst die in Konstruktion befindliche Behausung, lese ich nach. Der, die oder das Kobel?, frage ich mich. Der die das Kobel muss auf mindestens sechs Metern Höhe gebaut werden und der die das Kobel hat immer zwei Ausgänge, also immer einen Fluchtweg. Der die das konkrete Kobel auf meinem Sims ist ganz schön gross, und die Bauphase scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Nachbarin guckt dann und wann aus ihrer Behausung raus in meine rein. Warum eigentlich «die» Nachbarin? Eichhörnchen sind alleinerziehende Mütter, erklären mir Videos auf Youtube. Die Weibchen nisten gegen Ende des Winters, bereiten alles vor für den Nachwuchs und versorgen diesen dann während mehrerer Wochen. Und weil das da auf meinem Fenstersims irgendwie nach Geburtsvorbereitung ausschaut, schliesse ich: Es ist eine NachbarIN, die ich da intensiv beobachte. Stärker als die manchmal fast magische Anziehungskraft eines Bildschirms ist diese bauende Nachbarin: Alle paar Minuten schiele ich hinter den Vorhang, raus auf den Fenstersims. Manch mal – wenn mir etwas runterfällt, wenn ich besonders laut spreche oder Musik höre – , da gucken wir uns sogar durch die Glasscheibe in die Augen, oder es scheint zumindest so. Schwarze, wache Tieraugen, ängstlich prüfend und abwägend dort – braun-grüne, neugierigaufgeregte Menschenaugen hier.
Ich halte still, um das Tier nicht zu vertreiben. Lange Sekunden vergehen dann. Und ich habe schon ein schlechtes Gewissen, dass die Nachbarin wegen mir jetzt einen gehörigen Schrecken haben muss: Ein Raubtier! Ein Jäger! Und noch dazu so nah ... Aber schliesslich habe ich sie nicht gezwungen, sich ausgerechnet vor meinem Fenster, vor meiner eigenen lauten Baustelle niederzulassen. Und die Nachbarin scheint immer wieder neu zu beschliessen, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Die Nachbarin bleibt Nachbarin.
Kann man das eigentlich guten Gewissens, während die Welt rundum irgendwie – man kann es nicht anders sagen – den Bach runtergeht: so gänzlich unbeeindruckt kobelbauen und kobelbauenbeobachten? Sich freuen an diesem vom Weltgeschehen so unberührten Tun da draussen? Selbstverständlich ist die Nachbarin so unbeeindruckt dann doch auch nicht: Auch ihr setzt die Klimakatastrophe zu. Kürzere Winter bedeuten für die Eichhörnchen, dass auch der Nachwuchs früher kommt. Das wiederum bedeutet: mehr Kalorienverbrauch und dadurch mehr Futterbedarf bei gleichzeitigem Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel in den Wäldern und Hecken. Samen und Nüsse vertrocknen schneller und fehlen der Nagerin.
Wenn ich sie so beobachte, die Nachbarin, dann mag ich mir gar nicht ausmalen, wie eine Welt ohne Eichhörnchen aussehen könnte. Ganz eigennützig gedacht: Auch in Zukunft will ich in Umbruchszeiten diese Seelenruhe, diese unbeeindruckte Geschäftigkeit auf meinem Sims beobachten können. Die Nachbarin fragt offenkundig so gar nicht nach Sinn, nach Zukunft, nach dem Warum. Sie ist einfach da. Und das mit einer überraschenden Kraft und Beharrlichkeit. Und wie wird ihre Präsenz erst sein, wenn die kleinen Eichhörnchen dann geboren sind! Vielleicht drei, vier kleine, nackte und blinde Wunder, die von ihr das Eichhörnchenleben erlernen – direkt vor meinen Augen ... Was für ein Geschenk! Aber es sollte anders kommen: Eines Tages, schon am Morgen weht ein kräftiger Wind, ist die Metallkiste verschwunden. Sie liegt mindestens sechs Meter tiefer, einige Schritte weiter auf dem Asphalt. Zum Glück scheint niemand genau dann unter dem Sims durch gegangen zu sein. Aber mit der Metallkiste ist die Aussenwand der Eichhörnchenbehausung weg. Und kurz darauf ist der Sims leer: Der die das Kobel ist verschwunden. Einfach weggeweht. Und weg ist auch die Nachbarin. Ich sehe sie nicht wieder. Fast bin ich ein wenig beleidigt: Sie hätte sich doch wenigstens verabschieden können! Bestimmt hat sie bereits einen neuen Platz gefunden, mindestens sechs Meter über dem Boden, und baut emsig und ohne Warum und ohne Zukunftsangst eine neue Behausung. Der die das Kobel für ihren Nachwuchs.●