Da entgleist das Moderatorengesicht dann doch leicht, erst Minuten später kommt seine vage, zögerliche Gegenrede, das Thema versandet, das Gespräch geht weiter. Am nächsten Tag wogen die Wellen in den sozialen Medien hoch. Es gibt nur eine Form von Auschwitz: Auschwitz. Der Fernsehsender lamentiert um eine Entschuldigung herum, der Moderator twittert eine solche – aber der Greis doppelt nach, Tageszeitungen bieten ihm Platz. Cancel Culture. Was soll das denn sein?
Cancel Cuture zu definieren ist zunächst gar nicht so einfach. Offenkundig ist: Es ist eine hochemotionale Sache, die Rhetorik ist stark. Es ist von Zensur, Sprachpolizei, Meinungsverboten und politischer Korrektheit die Rede. Die NZZ widmet dem Thema wöchentlich einen hitzigen Beitrag, aber auch bis in linke oder als progressiv geltende Lager ist die Angst vor dem Cancelling spürbar. Anna Rosenwasser – Kolumnistin und «halb so jüdisch, wie sie heisst. Doppelt so gay, wie sie aussieht» – dagegen handelt den Begriff fast salopp ab: «Ein Begriff, der von eher von mitte-rechts kommt und das Phänomen beschreibt, dass Personen aufgrund diskriminierender Aussagen öffentlich kritisiert werden und in der Konsequenz gar professionelle Aufträge verlieren können.» In der Tat: «Cancel Culture» als Begriff entstammt einer Rhetorik, die Herrschaftskritik diskreditieren will, die die Stimmen und Perspektiven von Minderheiten als mächtig und diskursbestimmend imaginiert und inszeniert, die Kritik an Ungleichheitsverhältnissen als anmassend oder autoritär darstellt, die «Gerechtigkeitsdiskussionen torpediert», wie es Franziska Schutzbach formuliert, und die bestehende Machtverhältnisse zu erhalten sucht.
Die Rede von der Cancel Culture suggeriert eine neue Form linker Aggressivität. Vielmehr werden aber überfällige Debatten rund um Diskriminierung, Macht und Hierarchien in der letzten Zeit verstärkt geführt. Nicht zuletzt dank sozialer Medien ist für viele die Teilhabe an solchen Debatten erst möglich geworden. Das verschiebt Verhältnisse. Und das Verschieben von Verhältnissen gehörte immer schon zur Demokratie: Die Stimmen in den Aushandlungen des Zusammenlebens werden vielfältiger, marginalisierte Stimmen werden selbstbewusster, hörbarer. So gesehen ist die emotionale Rede von der Cancel Culture kein schlechtes Zeichen: Hegemonien verschieben sich. Was lange als quasi-natürliche soziale Wirklichkeit existierte, ist im Umbruch, zeigt Brüche, wird neu verhandelt. Wollen wir wirklich ausschliesslich Männer auf unser Podium einladen? Geben wir der Frage «Existiert Rassismus in der Schweiz?» erneut Platz in unserem Sendungsformat? Lassen wir die umstrittene Komikerin in unserer Zeitung wirklich einen Judenwitz erzählen? Sind manche Worte noch zeitgemäss? Wem schenke ich meine Aufmerksamkeit?
Für diejenigen, die es gewohnt sind, dass sie die Regeln bestimmen und ihre Stimmen Gehör finden, ist dieser Moment einer der Irritation. Der Hegemoniewandel bedroht und verunsichert, er löst Ängste und Wut aus: «Cancel Culture!», «Zensur!», «Man wird doch wohl noch sagen dürfen!». Übersetzt hiesse das vielleicht, etwas küchentischpsychologisch gesprochen: «Ich werde nicht gehört», «Ich bekomme keine Plattform mehr», «Man nimmt mich nicht mehr ernst». Das sind schmerzliche Erfahrungen, sicher. Erfahrungen, die für viele Menschen grundlegende Lebensrealität sind, weil sie den nötigen Habitus für die Schweizer Politarena nicht haben, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe von der Polizei kontrolliert werden und erfolglos zehn Mal den gleichen Satz wiederholt haben, weil sie ihren Vergewaltiger angezeigt haben und ihnen zunächst niemand glauben wollte, weil sie in der Endlosschleife der Bürokratie eines Asylverfahrens gestrandet sind und ihnen das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit systematisch genommen wurde. «Cancel Culture!» ist immer auch ein Hinweis auf die Privilegien der Person, die so ruft. Und auf den existenziellen Prozess, Privilegien ein kleines Stückchen loslassen zu müssen.
Die demokratischen Aushandlungen um Teilhabe, Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind nicht statisch. Für linke und progressive Stimmen heisst das: Dranbleiben. Gezielt marginalisierte Positionen stärken, damit sie sicht- und hörbar werden können. Selbstkritisch bleiben, wo Hegemoniekritik übers Ziel hinausschiesst. Emanzipatorische Anliegen unterstützen. Sich selber in die demokratischen Aushandlungen einbringen. Unsicherheiten und Ambivalenzen zeigen. Spielverderber*in sein. Und manche Debatte um Cancel Culture getrost canceln.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.