Ambrotos

Iren Meier, 19. Juli 2023
Neue Wege 7/8.23

Der magische Moment ereignete sich vor Jahren in einem italienischen Hinterhof. Der Fotograf Kurt Moser fand dort eine sogenannte Ambrotypie-Kamera aus dem Jahr 1907. Er habe – so erzählt er es – innert Sekunden gewusst, dass er sie mitnehmen müsse. Er schleppte das fast zwei Meter grosse Holzgerät nach Hause, nach Bozen. Ohne zu wissen, was er mit ihm anstellen wolle. Erst mal habe er festgestellt, dass es für diese alte Kamera gar keine Filme gab. Wochen-, ja monatelang habe er versucht, in der Dunkelkammer eine Fotografie im Ambrotypie-Verfahren herzustellen, so wie die Fotografen damals 1850, als diese Technik erfunden wurde. Als Moser endlich die ersten Bilder im Atelier gelungen waren, hatte er die nächste Idee. Er wollte mit der riesigen Kamera in die Berge. Die Dolomiten abbilden. Seine Berge, seine Faszination. Was das heisst, können wir Handyfotograf*innen uns kaum vorstellen. Dieser Aufwand! Neben dem Kamera-Ungetüm reisen einige Kanister Chemikalien und Silberlösung mit. Und Glasplatten, mindestens einen mal anderthalb Meter.

Die, die sich auskennen, erklären das Verfahren so: «Die Glasplatten werden mit einer selbstgemischten Kollodium-Emulsion beschichtet, in einem Silberbad sensibilisiert und einer grossformatigen Balgenkamera belichtet. Die Aufnahmen werden noch nass in der Dunkelkammer entwickelt. Jedes Bild – ein Bild auf Glas – ist einzigartig.» Beizufügen wäre da noch: Ambrotos, das griechische Wort, dem die Technik ihren Namen verdankt, bedeutet «unsterblich».

So also zieht Kurt Moser an manchen Tagen mit seinem Kastenwagen inklusive seines mobilen Labors in die Berge im Südtirol. Die Journalistin und Filmemacherin Gitti Müller, die ihn zehn Tage lang begleitet hat, beschreibt die Szene: «Wenn Kurt ein Motiv gefunden hat, verbringt er Stunden damit, das richtige Licht abzuwarten, die Kamera einzustellen, das Objektiv auszusuchen. Jedes Steinchen, jedes Spiel mit Licht und Schatten will er festhalten, am liebsten für die Ewigkeit. Mindestens 800 Jahre haltbar sind seine Fotos auf Glas.»

Und sie fährt fort: «Er wartet also auf den Moment, dann atmet er tief ein und aus, zieht die tellergrosse, schwarze Objektivkappe ab und zählt die Sekunden der Belichtungszeit, bevor er sie wieder schliesst. Dann bleiben ihm genau fünf Minuten, um das Bild zu entwickeln. Er rast mit der Platte quer über die Alpwiese in sein mobiles Labor. Man hört es gluckern und knacksen, klicken und rauschen. Und dann kommt er raus. Auf der schwarzen Platte erscheinen die Gipfel der Dolomiten überirdisch schön in Schwarzweiss. Für immer ein Unikat, es kann nicht vergrössert, nicht verkleinert, nicht kopiert werden.»

Wenn ich ein Bild von Kurt Moser betrachte, ergreift es mich. Diese Nähe. Eine Art haptisches Erleben. Fast fühl- und greifbar. Die Berge. Und die Gesichter der Bergbäuer*innen. Gezeichnet von Arbeit und Entbehrung. Die Dolomiten gehören seit 2009 zum Unesco-­Weltnaturerbe. Auch in diesem Zusammenhang stehen Arbeit und Kunst von Kurt Moser.

Geschichten ihrer Flüchtigkeit entreissen, will der Fotograf laut seinen eigenen Worten.

Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Die ein bisschen verrückt ist und aus der Zeit gefallen?

Weil ich Kurt Moser in einem «früheren Leben» schon einmal begegnet bin und mich sein Lebensweg anrührt und bewegt. In den Kriegen in Jugoslawien haben wir uns gestreift, so wie viele Journalist*innen und Kameraleute. Dieser Kameramann aus dem Südtirol ist mir in Erinnerung geblieben. Weil um ihn immer eine auffallende Ruhe war – in der grössten Hektik. Weil er leise war. Weil sein Blick immer etwas länger auf dem Geschehen ruhte als bei anderen. Durch seine Linsen sah er Leid und Grauen, seine Bilder flimmerten über die Schirme grosser Fernsehanstalten, ein paar Sekunden lang – und verschwanden dann in den Archiven der Sender. Jahrzehntelang arbeitete er so. In vielen Teilen der Welt.

Bilder, Szenen, Begegnungen, Momente – alle verschlossen auch im innersten (im seelischen) Archiv des Kriegsfotografen, des Kameramannes, des Menschen, der von einem Konflikt zum anderen reiste. Der die Dunkelheit der Welt belichtete – für die Dauer eines Wimpernschlages.

Und jetzt dehnt er die Zeit. Und das Licht.

Unzählige Kinder im Krieg hat er gefilmt und fotografiert. Sie sind auf- und abgetaucht vor unseren Augen. Kind 1 in Sarajevo, Kind 2 in Kabul, Kind 3 in Aleppo, Kind 4 in Mossul, Kind 5 …

Unterschiedliche Gesichter, diverse Nationalitäten, andere Hintergründe und Kontexte. Aber immer der gleiche Skandal. Nur selten schaffte es einer dieser kleinen Menschen tief in unser Bewusstsein, weil ihm unser Blick nie lange genug standhielt.

Und jetzt harrt Kurt Moser einen ganzen Tag lang in den Bergen aus, um das Gesicht einer Südtiroler Bergbäuerin abzubilden. Es der Flüchtigkeit zu entreissen. Mit einem einzigen Bild. Und wir – wenn wir wollten – könnten es in Museen der Fotografie in Berlin, London oder New York betrachten. Wirklich anschauen.

Rückschritt? Fortschritt? Umkehr? Einkehr? Oder vielleicht erst einmal nur Inne­halten? Wohin rasen wir? Was bilden wir alles ab, was wir nicht mehr erleben können, ­erleiden, verkosten, geniessen?

Wieder sehen lernen. Als eine der vielen Vorstufen zum Verstehen und Begreifen. Sich wieder einmal John Berger zuwenden, dem grossen britischen Lehrmeister des Sehens, des Schauens. Seine Bücher lesen, seine ­Bilder betrachten, seine BBC-Reihe Ways of seeing entdecken. Berger war Maler, Schriftsteller, Kunstkritiker, politischer Aktivist, Menschen­freund und Bauer. Auch ihn hat die Zeit des Krieges geprägt, eine Generation früher als Kurt Moser. Mitten im kriegsversehrten ­London begann er 1942 sein Kunststudium. Den letzten Teil seines langen Lebens verbrachte er in einem kleinen Dorf in den ­Savoyer Alpen unter Bergbäuer*innen. Ihr Leben und die Landflucht der Menschen, die Migration wurden zu seinen grossen Themen. Der masslosen Ungerechtigkeit der Welt begegnete er mit Zuneigung, Behutsamkeit und heiligem Zorn. Er weist immer darauf hin, wie wichtig es ist für den Menschen, «sich zu verhalten». Zu den grossen Fragen. Die sich auch in einer Fotografie stellen können.

Die Sehnsucht nach dem Unvergänglichen. John Berger kannte sie. Kurt Moser spürt sie. Wir alle wissen um sie, nehme ich an.

Eines der schönsten und nachdenklichsten Bücher von John Berger trägt übrigens den Titel: and our faces, my heart, brief as photos – Und unsere Gesichter, mein Herz, ­vergänglich wie Fotos.●

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.